1875, Briefe 412–495
456a. Eingabe an die Erziehungsbehörde in Basel
<Basel, 24. Juni 1875>
Griechischer Unterricht am Pädagogium
p. 1.
Die Zeit des gesammten griechischen Unterrichts, den ein Schüler der hiesigen Anstalten bis zu seinem Abgange zur Universität genießt, ist gegenwärtig sehr gering; er umfaßt drei Jahre am Pädagogium und zwei Jahre vor dem Eintritt in dasselbe, für jede Schulwoche 6 Stunden gerechnet. Es wäre zu überlegen, ob dieser Zeitraum nicht verlängert werden könnte, beispielsweise durch Hinzufügung einer obersten Classe, einer Selecta; denn ein Unterricht, der es nicht erreicht, den Schülern eine tiefere Neigung für das hellenische Leben einzuflössen und der sie nicht zuletzt mit der Fähigkeit entläßt, griechische Schriftsteller leicht zu lesen — ein solcher Unterricht hat sein natürliches Ziel verfehlt. Ein wenig weiter heißt in solchen Fällen sehr viel weiter, nämlich zum Ziel zu kommen.
p. 2.
Sehr zu bedauern ist, daß das Griechische für Mediziner an unserer Schule als fakultativ angesehen wird. Immerhin sollte die Entbindung vom griechischen Unterricht nur in den seltensten Fällen zugestanden werden; denn welcher junge Mann kann ein paar Jahre vor seiner Universitätszeit mit der nöthigen Bestimmtheit wissen, daß er eben Medizin studieren werde? Dazu kommt, daß gerade die hiesigen Professoren der Medizin sich so dringend wie möglich zu Gunsten der griechischen Ausbildung zukünftiger Mediziner ausgesprochen haben.
p. 3.
Ein weiterer Wunsch, den wir bei dieser Gelegenheit mitaussprechen wollen, bezieht sich auf die Einführung einer und derselben griechischen Grammatik für alle Jahre des Unterrichts, zum Beispiel der Koch’schen Grammatik.
p. 4.
Wir verlangen, daß die Schüler, um als reif angesehen werden zu können, gelesen haben
a)
den ganzen Homer
b)
drei Werke der tragischen Dichter
c)
eine größere Anzahl ausgewählter Stücke von platonischen Dialogen
d)
ebenfalls ausgewählte Theile des Thukydides, des Herodot und des Xenophon
e)
Reden des Lysias oder Demosthenes
Bei dieser Aufstellung wird nicht nur auf die Schul- sondern auch auf die Privatlektüre der Schüler Bezug genommen.
p. 5.
Der ersten Classe fällt zu: Xenophons Anabasis oder Hellenika. Die Odyssee. In grammatischer Beziehung die Formenlehre und die Syntax der Casus, mit wöchentlichen schriftlichen Übungen. Der zweiten Classe fällt zu: Herodot. Die Redner. Die Ilias. Die Syntax der Tempora, des Infinitivs und des Participiums. Schriftliche Übungen.
Der dritten Classe fällt zu: Tragiker. Plato. Thukydides. Ilias. Die Syntax der Moduslehre. Schriftliche Übungen.
Prof. Dr. Nietzsche.
den 24 Juni
1875.