1875, Briefe 412–495
462. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Basel,> 8 Juli 1875
Meinen schönsten Geburtstags-Gruß, liebe Schwester, nebst einer kleinen Erzählung der Ereignisse, die seit Deiner Abreise Deinen Bruder betroffen haben. Ich nehme an, daß Du nicht nochmals das Opfer unsrer kindlichen Unerfahrenheit in Zahlendingen geworden bist und Deine Reise planmäßig zu Ende gebracht hast, ebenfalls nehme ich an, daß Ihr Euch vielerlei erzählt, vorschlagt, ausdenkt und den Geburtstag diesmal mit neuen und fast wehmüthigen Empfindungen feiern werdet. Da passen denn meine Erlebnisse gut hinein. Ich begann mir am ersten Tage, wo ich wieder den Kopf betrat, den Magen zu verderben und mußte die Nacht über einige Stunden ächzen und krächzen; jedesmal wenn der Akt vorüber war, zu neuem kräftigen Beginnen mich sammelnd. Zu Ehren meiner jetzigen Kur muß ich sagen, daß ich am Kopf an meinem Kopf dabei lange nicht so zu leiden hatte, auch daß ich den Morgen, matter zwar als ein Sänger am dritten Festtag, meine gewöhnlichen Tagesarbeiten machen konnte. In dieser Verfassung bekam ich den Besuch eines Berliner Herrn, Namens Dr. Förster, und unterhielt mich so ziemlich, ihn aber vielleicht unziemlich. Er behauptete mit unsrer lieben Mutter einmal zusammen gewesen zu sein, in Großjena, erinnre ich mich recht. Heute war ich bei Frau Vischer, des Dankes wegen, nachher spazierte ich mit Jakob Burckhardt ¾ Stunde im Münster-Kreuzgang. Das Steinabad wird mich am 16t. d. M. empfangen, man hat mir geschrieben. Auch Frau Baumgartner schrieb, vom Seelisberger Wetter; hier hat es immer geheizt, wie im römischen Bad, dazwischen geblitzt und gedonnert und geregnet, Tag für Tag, ohne die Luft zu verbessern, die wie ein feuchter Flanell auf mir liegt. Heute ist der Tag, wo der Postvertrag aller Länder in Kraft tritt, mit derselben Briefmarke, die ich heute Dir zuwende, könnte ich Amerika, Spanien, das asiatische Rußland usw. erreichen. Frau Baumann fährt fort, mich mit Beefsteaks zu erquicken. Meine Collegien sind mein täglicher Trost und überhaupt eine schöne Erfindung. Das Sängerfest ist vor der Thüre und ich stehe beinahe auf dem Sprunge, ihm auszuweichen. Der Spalenthurm hat mir heute mit seinem Schmucke sehr gefallen. Auf dem Petersplatze müssen die Leute, um Platz zu finden, nach meiner Berechnung, zweimal über einander stehen, doch kann in meiner Berechnung ein Fehler sein. — So weit meine Erzählung. Ein Oelklex hat die andre Hälfte des Briefs zerstört. Feire deshalb Deinen Geburtstag nichts weniger glücklich und sei von der Liebe und den guten theilnehmenden Wünschen Deines Bruders von Herzen überzeugt. Dir und unsrer lieben Mutter die freundlichsten Grüße
Eures
Fritz.
Nun will ich noch nach dem Briefkasten hoppen, sonst hoppt der Brief nicht zur rechten Zeit zu Dir. Es ist zehn Uhr. In der Festhalle tönt das Concert zur Einweihung derselben.