1875, Briefe 412–495
479. An Carl Fuchs in Hirschberg
<Steinabad, 11. August 1875>
Sie haben Leid erfahren, lieber und armer Herr Doctor, und billigerweise sollten die, welche Sie lieben, versuchen Ihnen eine Freude zu machen. Aber wie schwer ist dies manchmal! Man möchte ja so oft verstummen, um nur nichts mittheilen zu müssen, da die Mittheilung gewöhnlich wieder einen Gran Leides enthält. Wir sind Beide nicht in Bayreuth, sehen Sie, da steckt mehr als ein Gran; und jeder Brief, welchen ich von meinen dort weilenden Freunden Gersdorff Overbeck und Rohde erhalte, bringt mir einen schmerzlichen Krampf hervor — bis ich mir endlich sage, „ein Glück, dass nur die Andern dort sein können.“ Da fallen aber Sie mir wieder ein! Es sind eben doch nicht alle „Andern“ dort, und mein Trost ist recht unvollständig!
Es gieng schlimm zu, ich merke es immer an der Art, wie ich mich zu meinen grossen Plänen und zum Zusammenhang meines Lebens verhalte. Diesmal war ich so weit herab gestimmt, dass ich fast ohne Pläne nur noch für heute zu morgen weiter zu leben beschloss. Hier habe ich gelernt wieder muthiger zu sein — die vorsichtigste Existenz in manchem Betracht kann ja immer noch die muthigste sein in Beziehung auf eine Hauptsache. Und so lebe ich nun einmal und werde leben, sehr vorsichtig und für die Hauptsache sehr muthig; und nicht einmal der Tod ist es, was mich am meisten schrecken könnte, sondern nur das kranke Leben, wo man die causa vitae verliert.
Hier bei meinem Herumschweifen in Bergen und Wäldern — immer allein und immer auf das beste unterhalten — dachte ich viel an Sie, an die eigenthümlich schwer zu verstehende Leidensgeschichte Ihres bisherigen Lebens; ich fragte mich, woran es nur hängen möge, dass auf dem, was Sie gut und mit Aufopferung schaffen und thun, nicht das Wohlwollen und die Freude Andrer ruhe, dass also alles recht-Vollbrachte Sie gleichsam rückwärts verwunde. Die Geschichte Ihrer „Logik der Hände“ quält mich, wenn ich an sie denke (ich habe, erinnere ich mich recht, selbst dazu beigetragen, Sie nach der Vollendung jenes Werks zu quälen, statt Sie zu erfreuen) Ebenso gedachte ich wieder Ihrer Präliminarien; dadurch, dass Sie dieselben als Dissertation herausgaben, haben Sie einen Ihrer schönsten Pfeile verschossen, ich kann es nicht anders nennen und ärgere mich, weil ich immer noch glaube, dass der Gedanken-Inhalt dieser Schrift als einer ästhetisch-kritischen kaum seines Gleichen habe. Auch alles, was Sie dem Frit<z>sch für das Wochenblatt übergeben haben, war dort wie verzaubert und konnte Ihnen nicht einmal die verstehende Sympathie der Musiker sichern. Da zerbreche ich mir nun den Kopf, woran diese wunderliche Art von Nicht-erfolgen hänge. Seien Sie nicht böse, wenn ich mich dabei an das Wort Liszts von den pressanten Freunden erinnerte, es kam mir so vor, als ob eine gewisse feurige Pressirtheit, ein nicht-warten-wollen Ihnen manchen Erfolg geraubt hat. Man soll dem Schicksal nicht merken lassen, was man will; fünf Minuten später ist es dann von selber so gutwillig, ein Anerbieten zu machen. „Bereit sein ist Alles“, heisst es, denke ich, bei Shakespeare. Vielleicht ist aber das, was ich hier ziemlich altklug sage, nichts als die Theorie aus einem ziemlich mit Glücksfällen besäeten Leben? Aber Sie können mir glauben, dass es ganz meiner innersten Gesinnung entspricht, eine Sache jahrelang zu hegen und mir nicht anmerken zu lassen, dann aber, wenn sie mir in den Griff kommt, sie hinzunehmen; ich war „bereit“. Es kommt bei diesem „Hegen“ noch nicht eigentlich zum Wunsche, es fehlt mir eben darin an Ihrem Feuer. Es ist nur wie eine Vorstellung, conditional empfunden „es wäre für dich beglückend, wenn —“; Sie glauben schwerlich, was für grosse und herrliche Vorstellungen dieser Art ich mit mir herum trage, für welche ich plötzlich bereit sein werde. —
Nun ein Einfall. Erlösen Sie doch Ihre Präliminarien aus ihrer blutlosen Existenz bei Frit<z>sch und machen Sie etwas Neues daraus. „Briefe über Musik von Dr. Carl Fuchs“ — so etwas schwebt mir vor der Seele, denn Sie haben das seltene Recht, daran zu denken, in wie fern die Briefform als wahre Kunst-form behandelt werden könne. (Aristoteles galt den Alten als Klassiker der Prosakunst, nicht wegen der Schriften, die wir haben, sondern nur seiner Dialoge und Briefe wegen) Wir andern Sterblichen haben kein Recht Briefe zu veröffentlichen, wir wären dann affectirte Narren und wollten dies öffentlich zur Schau stellen. — In diese Briefe giessen Sie Ihre Erfahrungen über einzelne Meister und Meisterwerke, mit denen Sie unsereinem die grösste Wohlthat und Liebe erweisen können! Der dialectische Gang Ihrer „Kritik der Tonkunst“ brauchte zuallerletzt an akademische Gangarten erinnern. Wenn Sie sich ein Publikum vor die Seele stellen wollen, dann nur ja keine Professoren, sondern etwa die Bayreuther Genossen, welche jetzt dort sind und im nächsten Jahre eine recht ungewöhnlich „gute Gesellschaft“ machen werden.
Ihre Abfertigung Lotze’s (sammt einigem Neuen über Gervinum, wenn ich bitten darf) könnte anhangsweise zeigen, dass Sie auch gut auf Mensur mit Säbeln stehen können. —
Alles freundlich zu erwägen! Ich bin ferne davon, mit irgend einem Rathe zudringlich fallen zu wollen, aber mitunter trifft man’s, etwas zu sagen, was ein Anderer schon auf der Zunge hatte — da giebt es immer eine kleine Freude. Ich sagte Ihnen ja, wie es mein herzlicher Wunsch sei, Ihnen eine Freude zu machen.
Die weimarischen Briefe — ach wie gut ich mir alles vorstellen konnte, besonders Liszt — sind an die angegebne Addresse abgeschickt.
Was meinen Sie dazu, dass die Post fast alle Ihre Briefe nach Basel als „unzureichend frankirt“ behandelt? Dabei beklage ich, dass die Marken, welche Sie darauf geklebt haben, immer gar nicht gerechnet werden, also vergeudet sind. Für den letzten Brief verlangte man z.B. von mir noch 2 frs. Es verdriesst Sie doch nicht, dass ich dies erwähne? Lieber Himmel, gieb, dass wir freien Geistes seien, alles andre kannst du für dich behalten.
Treugesinnt der Ihrige, immer
noch patientenmässige, und
patientiam brauchende, sowie
empfehlende
F. Nietzsche.
Von morgen an bin ich in Basel bei der guten Schwester