1875, Briefe 412–495
467. An Franz Overbeck in Dresden
<Basel, 14. Juli 1875>
Übermorgen, mein lieber Freund, reise ich endlich ab, am frühen Morgen des ersten Ferientags: mein Ziel ist ein kleines Bad im Schwarzwald, welches eigens für Magenkranke bestimmt und der Diät nach eingerichtet ist, auch unter der Führung eines alten bewährten Specialisten steht. Also: „Steinabad bei Bonndorf, badischer Schwarzwald“.
Es ging mir immer schlecht, alle Wochen gab es einen Tag, wo ich zu Bett liegen musste, mit heftigem Erbrechen und höchst schmerzhaftem andauerndem Kopfschmerz. Gestern noch. Ich bin seit ungefähr 2 Wochen wieder allein, meine Schwester ist in Naumburg, um mancherlei für unsre Einrichtung vorzubereiten; denn umgezogen bin ich noch nicht, das geschieht erst nach den Ferien. Deine Gratulationen kamen so zeitig, dass sie hoffentlich schon auf die Vorbereitung unserer Übersiedelung ihre Kraft ausüben. Ich schreibe somit auch heute noch, lieber Freund in Deinem Zimmer, an Deinem Schreibtisch. Woher hattest Du doch die Nachrichten über mich? Es hat mir nämlich eine Art von boshaftem Vergnügen gemacht, fast aus jedem Briefe, der neuerdings an mich ankömmt, eine mich betreffende neue Thatsache zu entnehmen, die mir fremd war. ZB. da soll Herr Nietzsche seit 1 Juli Spalenthorweg 48 wohnen, er soll bestimmt an Migräne leiden, es soll das Übel wieder gehoben sein und er sich wohl befinden. Ich wünsche diesem Herrn viel Vergnügen, aber ich habe nicht die Ehre, ihn so gut zu kennen, wie mich. Und von mir weiss ich, dass alles Dreies nicht der Fall ist.
Das Sängerfest ist mit grossem Prunke einhergezogen, ich habe wenig gesehn und gehört, im Concert war ich nicht. Doch erfasste ich an einem Tage Hrn. Kaufmann, nöthigte ihn, sich als Inhaber einer gewissen interessanten Composition zu geriren, bat darum, sie abholen zu dürfen. Nein, er will sie bringen, durchaus. „Aber ich reise in den nächsten Tagen ab!“ „Gut, ich komme morgen“. Aber er kam nicht, auch übermorgen nicht, und ich weiss kein Mittel mehr, ihm das „Kunstwerk“ aus den Zähnen zu ziehn.
Ich lebe von Tage zu Tage, ganz ephemer und freue mich an meinem Colleg, nicht als ob es schön wäre, sondern weil es meine Gedanken zusammenhält und mir die Unruhe nimmt, wie sie bei einem solchen Zustande natürlich ist. Aber das habe ich eingesehn: schon mit halber Lebenskraft kann man Professor sein. Und das treibt mich zu der Frage, ob man’s wohl bei ganzer sein könne. Auf die Dauer? Zur Unterhaltung würde ich Dir Fuchsische Briefe schicken; aber sie sind mir schon zu theuer geworden. Der letzte war unzureichend frankirt, kostete mich 2 frs. und war mit 4 großen Marken von ihm versehn worden. Mathematische Frage: wie dick und schwer war er? —
G. Krug hat eine Composition geschickt, Schlusssatz seines Quartett<s>. Pinder hat unglücklich geboren, Krug erwartet Geburt. Ein Dr Förster aus Berlin kam, mich kennen zu lernen. Ich habe durch freie Äusserungen einen abstossenden Eindruck gemacht. Ich schimpfte des längeren über den Berliner Curtius und den Maler Schwind und traf beidemal in’s Schwarze dh. dorthin, wo bei meinem geehrten Gast das Herz sass. — Auch Hr. Felix Dräseke, Componist, hat mich besucht.
Nun, alter Getreuer, hoffentlich erwachsen Dir täglich neue Segnungen Deiner inneren Badekur-Berieselung. Wäre ich nur so vernünftig gewesen, mit Dir zu gehen! Jetzt kommst Du nun als Vorbild und Musterstück wiederhergestellter Innerlichkeit zurück und findest die Höhle leer und mich ausgeräuchert! Aber gute Freunde und getreue Nachbarn wollen wir sein und bleiben!