1875, Briefe 412–495
482. An Edouard Schuré in Paris
Steinabad den 11 August 1875
Verehrtester Herr,
einmal war es die reinste Verlegenheit, gar nicht zu wissen, unter welcher Addresse ich Ihnen den Ausdruck meiner Dankbarkeit zukommen lassen könnte und dann ein tiefes körperliches Missbehagen, welches ich jetzt in einem kleinen Bade des Schwarzwaldes auch von der Seele herunter zu waschen suche — beides also mag mich entschuldigen, wenn ich so ausserordentlich spät Ihnen sage, wie freudig Sie mich durch Ihr bedeutendes Geschenk überrascht haben. Nicht mich allein; ich nenne sofort eine ausgezeichnete Landsmännin von Ihnen, Frau Baumgartner-Köchlin, welche Ihr Buch von mir erhielt und Ihnen durch mich Ihre dankende Verehrung aussprechen lässt. Frau Baumgartner bewunderte die Kraft und rednerische Originalität Ihres französischen Ausdrucks; und ich erfreute mich mit ihr an dem grossen Rhythmus des ganzen umfänglichen Werkes, ich möchte sagen, an der künstlerischen Vertheilung von Hochund Tiefton in der Oekonomie Ihres Buches. Wenn Sie einigen Gesichtspuncten meiner Schriften Ihre innerste Theilnahme geschenkt haben sollten — Sie sind so gütig, dies in Buch und Brief anzudeuten — so habe ich in Ihrer Zustimmung und Ihrer fruchtbringenden Theilnahme einen Zweifel widerlegt gefunden, der mich nicht selten gequält hat; ob ich nicht mit der monologisirenden Art meiner Schriften mir das Beste entzogen habe, was ein Autor sich wünschen kann — Übertragbarkeit seiner Ansichten und Fortleben, Fortwachsen derselben in fremden Seelen.
Aber wie kommt es, dass wir uns dies nicht in Bayreuth sagen konnten? Wir hofften es ja Beide und haben beide wie es scheint uns erheblich über das Mögliche getäuscht? Ich will nur annehmen, dass es keine Krankheiten sind, die Sie davon abgehalten haben, den schönsten Lohn für Ihre tiefe geistige Bemühung, den Bayreuther Lohn einzuernten.
Kommen Sie nicht einmal über Basel? Ich bedaure immer noch, dass Ihr damaliger Besuch sich in so absurder Weise mit einem Anfalle meines körperlichen Leidens kreuzen musste. Vielleicht kann ich jetzt eher Gesundheit und die Ermöglichung eines näheren und vertrauteren Sich-Mittheilens versprechen.
Leben Sie wohl, hochgeschätzter Herr, und glauben Sie an die Ergebenheit
Ihres
Dr Friedrich Nietzsche.