1875, Briefe 412–495
412. An Hans von Bülow in London
<Naumburg,> 2 Jan. 1875.
Hochverehrter Herr
ich habe mich durch Ihren Brief viel zu erfreut und geehrt gefühlt, um mir nicht den Vorschlag, welchen Sie mir in Betreff Leopardi’s machen, zehnfach zu überlegen. Ich kenne dessen prosaische Schriften freilich nur zum kleinsten Theile; einer meiner Freunde, der mit mir in Basel zusammenwohnt, hat öfters einzelne Stücke daraus übersetzt und las sie mir vor, jedes mal zu meiner grossen Überraschung und Bewunderung; wir besitzen die neueste Livorneser Ausgabe. (Soeben ist übrigens ein französisches Werk über Leopardi erschienen, Paris bei Didier, der Name des Autors ist mir entfallen — Boulé?) Die Gedichte kenne ich nach einer Übersetzung Hamerling’s. Ich selber nämlich verstehe gar zu wenig Italiänisch und bin überhaupt obschon Philologe doch leider gar kein Sprachenmensch (die deutsche Sprache wird mir sauer genug).
Aber das Schlimmste ist: ich habe gar keine Zeit. Die nächsten 5 Jahre habe ich festgesetzt, um in ihnen die übrigen 10 Unzeitgemässen auszuarbeiten und um damit die Seele von all dem polemisch-leidenschaftlichen Wuste möglichst zu säubern. In Wahrheit aber begreife ich kaum, wo ich dazu die Zeit finden soll; denn ich bin nicht nur akademischer Lehrer, sondern gebe auch griechischen Unterricht am Baseler Pädagogium. Meine bisherigen schriftartigen Erzeugnisse (ich möchte nicht „Bücher“ und auch nicht „Broschüren“ sagen) habe ich in spärlichen Ferien und in Krankheitszeiten mir beinahe abgelistet, die Straussiade musste ich sogar dictiren, weil ich damals weder lesen noch schreiben konnte. Da es aber mit meiner Leiblichkeit jetzt sehr gut steht, keine Krankheit in Sicht ist und die täglichen Kaltwasserbäder mir keine Wahrscheinlichkeit geben, dass ich je wieder krank werde, so steht es mit meiner schriftstellerischen Zukunft fast hoffnungslos — es sei dass sich mein Tichten und Trachten nach einem Landgute irgendwann einmal erfüllte.
Auf eine solche schüchterne Möglichkeit werden Sie Sich, verehrter Herr, natürlich nicht einlassen; weshalb ich Sie bitten muss, von mir bei diesem Plane abzusehen. Dass Sie aber überhaupt dabei an mich „gedacht“ haben, ist eine Form der Sympathie, über die ich mich nicht genug freuen kann, selbst wenn ich erkennen sollte, dass es für jenes Vermittler-Amt zwischen Italien und Deutschland würdigere und geeignetere Persönlichkeiten giebt.
Ich verharre in steter Hochschätzung
Ihr ergebenster
Friedrich Nietzsche