1875, Briefe 412–495
420. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Basel,> Sonntag den letzten Januar 1875.
Meine liebe gute Mutter, ich komme eben vom Mittagsessen bei Vischer-Heußlers zurück und will schnell noch mein Geburtstagsbriefchen schreiben, damit Du es noch zur rechten Zeit und womöglich noch vor der rechten Zeit bekommst (um es nämlich wieder gut zu machen, daß mein Brief voriges Jahr wohl ein wenig spät kam) Wenn Du nächsten Dienstag 49 Jahr werden solltest — ich weiß es wirklich nicht genau — so will ich erzählen, was die alten Griechen von diesem Jahre hielten; sie meinten, man sei in diesem Jahre auf der Höhe und befinde sich geistlich und leiblich recht gut; weshalb ich Dir zu diesem Jahre besonders gratuliren will. Ich nehme ungefähr an, Du habest damit das erste Halbtheil Deines Lebens abgeschlossen, doch steht einer andern Auffassung nichts entgegen, wenn Du zb. vorziehen solltest, damit erst das erste Drittel des Lebens absolvirt zu haben... In letzterem Falle würdest Du auf dieser Erde noch Zeit haben bis 1973, im ersteren bloß bis 1924. Da ich mir selber vorgenommen habe, leidlich alt zu werden, so wollen wir uns nur daran gewöhnen, uns ungefähr als gleichalterig anzusehen; und wer weiß, ob Du nicht in 10 Jahren jünger aussiehst als ich in 10 Jahren! Ich glaube es beinahe und will mich nicht wundern. Irgendwann wird mich jeder der es nicht besser weiß, für den älteren Bruder halten (und Lisbeth vielleicht, wenn sie sich so fort in ihrer Jugend einmumisirt) für unser Enkelchen. Das wird eine schöne verkehrte Welt abgeben! Und woher kommts? Daher daß die Frau Mutter partout nicht alt werden will. Wozu ich heute aber von ganzem Herzen gratulire.
Mir geht es erträglich. Genug Arbeit, wenig Ruh bei Tag und Nacht. Doch halten’s die Augen aus.
Die Jahre rennen so hin, und ich bin ferne davon, das Leben für eine schöne Erfindung anzusehen.
Am vorigen Freitag Abend war ich bei Hagenbach-Bischoffs zu Besuch. Siebers habe ich auch besucht, doch geht es nicht so gut bei Frau Sieber als man wünschen möchte. Heute Abend wird Dr. Hermann bei uns in der Baumannshöhle zu Gast sein, zum Abschied, er verläßt Basel mit diesem Monat. —
3 Sonnabende hinter einander war ich in Lörrach, wo die französische Übersetzung meiner letzten Schrift meine Anwesenheit wünschenwerth machte. Diese ist auch mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit fortgeführt worden; in 14 Tagen bekomme ich das fertige Manuscript und wir bemühen uns um einen Verleger in Paris. Mein deutscher Verleger in Schloß-Chemnitz ist über den bisherigen Verkauf recht zufrieden gestellt. Gersdorff wird Anfang März uns hier besuchen. —
Nun, meine liebe Mutter, feiere Deinen Ehrentag, wie auch ich ihn in der Ferne feiern werde. Behalte lieb Deinen
Fritz