1875, Briefe 412–495
436. An Malwida von Meysenbug in Rom
Basel Mitte März oder noch später. <kurz nach dem 20. März> 1875.
Verehrteste Freundin
hier schicke ich Ihnen ein ganzes Bündelchen Briefe: möchte ich damit ein wenig von der Freude zurückgeben, welche ich bei jedem Ihrer liebevollen Briefe empfange!
In dieser Stube ist oft von Ihnen gesprochen worden, wie immer wenn der treue Gersdorff und ich unsere Gedanken über unsere wahren Freunde austauschen; und ebenfalls haben Sie in Frau Baumgartner eine herzlich verehrende Freundin gewonnen; was Ihnen irgendwann einmal, vielleicht bald, durch einen Brief bezeugt werden soll. — Inzwischen hat sich mein Verleger Schmeitzner die Erlaubniss ausgebeten, für einen Pariser Verleger zu sorgen; wozu ich um so lieber meine Einwilligung gegeben habe, als ich so Herrn Monod keine Beschwerde mache, wenigstens zunächst nicht. Sollte Schmeitzner kein Glück haben, so würde ich dann dankbar die Vermittlung Hr M<onod>s annehmen.
Es giebt jetzt ein paar Tage Ferien, und ich brauche sie. Gersdorff ist schon über 14 Tage um mich. Es ist an der Nr 4 gearbeitet worden.
Seit Neujahr ist auch, ganz nebenbei, ein neues grösseres Musikstück fertig gemacht, ein Hymnus auf die Einsamkeit, deren schauerliche Schönheit ich aus vollem dankbaren Herzen verherrlicht habe. — Vom Hymnus auf die Freundschaft habe ich Ihnen erzählt. —
Da fällt mir ein, dass ich etwas über Eduard sagen soll; aber heute werde ich’s schuldig bleiben. Lange, lange kam das Werk mir nicht zu Gesicht und ich dachte nie über Eduard nach. Wollen Sie mit etwas ganz Unreifem fürlieb nehmen, so würde ich als meine Meinung dies bezeichnen. Nur im Lichtstrahl von Ottiliens Liebe sieht Eduard so aus, wie er billigerweise immer erscheinen sollte. Aber Goethe hat ihn geschildert, wie er alle schildert, die ihm selber ähnlich oder gleich sind und wie er sich selbst malt: ein wenig banaler und flacher als er ist; wie es Goethe liebte, nach eignen Geständnissen, sich immer etwas niedriger zu geben, schlechter zu kleiden, geringere Worte zu wählen. Diese Liebhaberei Goethe’s hat der Goethe-verwandte Eduard büssen müssen. Aber, wie gesagt, Ottilien’s Liebe zeigt uns erst, wer er ist, oder lässt es uns errathen; dass diese gerade den lieben musste, hat Goethe zur Verherrlichung solcher Naturen erfunden, welche tiefer sind als sie je scheinen und deren Tiefe erst der seherische Blick wahlverwandter Liebe ergründet. —
Aber wie gesagt und versprochen: ich will das Werk einmal wieder lesen und dann Ihnen schreiben.
Ein hiesiger Patrizier hat mir ein bedeutendes Geschenk in einem ächten Dürerschen Blatte gemacht; selten habe ich Vergnügen an einer bildnerischen Darstellung, aber dies Bild „Ritter Tod und Teufel“ steht mir nahe, ich kann kaum sagen, wie. In der Geburt der Tragödie habe ich Schopenhauer mit diesem Ritter verglichen; und dieses Vergleiches wegen bekam ich das Bild.
So Gutes erlebe ich. Ich wünschte ich könnte andern Menschen täglich etwas Gutes erweisen. Diesen Herbst nahm ich’s mir vor, jeden Morgen damit zu beginnen, dass ich mich fragte: Giebt es Keinen, dem Du heute etwas zu Gute thun könntest? Mitunter glückt es etwas zu finden. Mit meinen Schriften mache ich zu vielen Menschen Verdruss, als dass ich nicht versuchen müsste, es irgend wodurch wieder gut zu machen.
Und nun, verehrteste Freundin mag der Brief fortlaufen, sonst kommt Evchens schriftlicher Erguss zu spät.
Meine Schwester ist mit Glück und Nutzen in Bayreuth, in einer Art von hoher Schule. Wagners Rückkehr hat sie durch eine kleine Aufführung gefeiert, bei der die guten Kinder sehr hübsch ihre Verschen hergesagt haben — Siegfriedchen hat meiner Schwester gesagt „ich liebe dich mehr als mich selbst.“
Lauter gute Nachrichten bekam ich bisher: doch weiss ich nicht, ob ich die Nachricht eine gute nennen darf, dass Wagner nach Ostern in München und Berlin Concerte geben will.
Ihnen das Beste und mir Ihre Liebe anwünschend
bleibe ich treulich
Ihr
Friedrich Nietzsche