1875, Briefe 412–495
468. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Steinabad,> 17 Juli 1875.
Meine liebe Mutter und Schwester, seit gestern Nachmittag um 2 Uhr bin ich im Steinabade und habe eine Stunde später die Bekanntschaft des alten und weithin geschätzten Dr. Wiel gemacht. Heute Morgen war ich zum Zweck genauer Untersuchung in Bonndorf bei ihm, und so ist denn zunächst das Übel, an dem ich leide also mit Namen zu nennen.
chronischer Magenkatarrh mit bedeutender Erweiterung des Magens. Nun soll der Bursche wieder zahm und klein gemacht werden, wir haben sein bisheriges Terrain sorgfältig punktirt und hoffen nach einiger Zeit zu sehen, daß er sich in bescheidenere Grenzen zurückgezogen hat.
Mein Speisezettel ist dieser. Jeden Morgen ein selbst gegebnes Clystier (Verzeihung, daß ich damit beginne, aber mit dieser Freude beginnt nun einmal der Tag! Inhalt: kaltes Wasser)
7 Uhr
:
ein Kaffeelöffel Karlsbader Sprudelsalz.
8 Uhr
Beefsteak 80 Gramm, 2 Zwiebäcke.
12 Uhr
Gebratenes Fleisch 80 Gramm (nichts weiter!)
4 Uhr
2 rohe Eier und eine Tasse Milchkaffee.
8 Uhr
Gebratenes Fleisch 80 Gramm, mit Gelée. —
Sowohl nach Mittag- als Nachtessen ein Glas Bordeaux.
Also: möglichst wenig Quantität, damit der Magen nicht ausgedehnt wird, aber alles in guter Qualität.
Die Beefsteaks à la Wiel sind schmackhaft und viel weicher und milder als die uns bekannten.
Der Ort ist sehr hübsch gelegen; ein rechtes Schwarzwaldthal und vortreffliche Luft, das ist kein Zweifel. Der Aufenthalt ist viel erträglicher als ich dachte. Es sind c. 40 Menschen hier, aus aller Welt, Amerikaner, Berliner, Schweizer, Süddeutsche. Für mich zwar giebt es nichts darunter, meinte Dr. Wiel.
Es ist dies Steinabad von Basel aus gut zu erreichen; von Basel bis Stühlingen Eisenbahn und nun mit fast direktem Anschluß Post bis Bonndorf. Ich verpaßte zwar den Anschluß, nachdem ich das Postbillet schon genommen hatte und mußte also den Weg zu Fuß machen; was mir aber sehr wohl that (3 Stunden), während beim Anblick der Post sich mein Magen zusammenschnürte (oder auseinanderschnürte, scheints nun)
Dr. Wiel ist in fast lächerlicher Weise ganz so, wie ich ihn mir dachte.
Mein Magen ist interessant in seiner Art von Erweiterung, nämlich nach rechts, während sonst die Mägen entgegengesetzte Richtungen einschlagen.
Da habt Ihr meine erste Erzählung. Die Noth war groß, wir wollen hoffen, daß das Schlimmste mit den letzten 9 Wochen abgethan ist (in der letzten Woche gab es noch 2 schreckliche Tage mit Erbrechungen).
In herzlicher Liebe Euer
Fritz.
„Steinabad
bei Bonndorf,
badischer Schwarzwald.“
Das ist die Addresse.
Das Sängerfest hatte herrliches Wetter, obschon die Wolken sehr gefährlich thaten. Die Zürcherischen Vereine siegten, der eine mit Fritz Hegar als Dirigenten, der andre mit einer Hegarschen Composition.
Der Dienstenwein ist bestellt, ebenso das Anstreichen der Bücherbretter. Der „Bleärnnel“ hat 5 frs. zurückgebracht.
Overbeck hat einen ganz glücklichen Brief an Immermann geschrieben; völlige Wiederherstellung und schönstes Gelingen der Kur.
Am Tag vor meiner Abreise kam Frau Baumgartner noch zu mir, von Seelisberg zurück. Schreib ihr doch einmal, liebe Lisbeth. Adolf hat Heimweh.
Nochmals herzliche Grüße.