1875, Briefe 412–495
490. An Erwin Rohde in Kiel
Basel den 7 October 1875.
Gott weiss, mein geliebter Freund, in was für einem Lichte Du diesmal den Morgen Deines Geburtstags erblickest! Kommt Dir der Tag grau, ja greulich vor, so denke doch ein wenig mit daran, was Du mir, was Du uns bist und sei aus unserer Seele heraus dem Himmel dafür dankbar, dass Du lebst. Freue Dich einmal mit allen denen, welche Dich lieben, wenn Du aus Dir selber sonst nur Leid und Schwermuth zu saugen weisst. Vielleicht aber erwartet Dich der Tag mit einem anderen Gesichte, mit einem freudigeren, ich weiss gar nicht, was sich inzwischen mit Dir begeben hat; und da ich mich ganz ausser Stande fühlte und noch fühle, Dir irgend nach einer Seite hin zu rathen, so habe ich inzwischen auch nicht völlig verlernt zu hoffen, und zwar so wie Deine Liebe hoffte — dass alle Verdunkelungen aufgehellt, alles Zagen beseitigt ist und dass Deinem edlen tapfern Sinne eine gleiche Gesinnung, eine gleiche Tapferkeit entspricht.
Über Deinen philologischen Vortrag hat mir bis jetzt Overbeck aus den Zeitungen noch nichts berichten können (ich lese keine Zeitungen mehr, seit dreiviertel Jahr) Ich denke, Du sendest mir den Vortrag? Wenigstens würde ich mir damit eine grosse Freude erbitten. Sonderbarer Weise vergesse ich es fast immer mehr, dass wir als Philologen mit einander bekannt geworden sind; wir haben inzwischen so vieles Gemeinsame bekommen, dass ich das Ursprünglich-Gemeinsame kaum mehr besitze. Ich wurde neulich in fast erschreckender Weise daran erinnert, was man ist und was man gerade jetzt kann, da man sich in ein verzehrendes Anticipiren der Zukunft viel zu sehr eingelassen hat, um nicht alles gegenwärtige Können zu übersehen; mir wurde nämlich etwas aus einem Urtheile J. Burckhardts über mich wieder erzählt (er hatte sich in Lörrach gegen einen ganz vertrauten Arzt ausgesprochen) Unter anderem hat er gesagt: „so einen Lehrer würden die Baseler nicht wieder bekommen.“ Das gilt also meiner Thätigkeit am Pädagogium: also zu einem ordentl. Schulmeister hat’s man wirklich gebracht, fast so nebenbei, denn bis diesen Augenblick habe ich nur mit Pflichtgefühl und ohne alles Selbstgefühl diesem Amte gedient, auch ohne Freude. Vielleicht gelingt mir’s auch so nebenbei und beinahe gesagt im Schlafe noch zum Philologen zu werden; ich stecke so voll von allgemeinen Nöthen, dass ich mich fast wie ein Handwerker mit der Philologie befasse, ich meine, wie mit einem Ding, was man zu allen Stunden treiben kann und muss, ohne dass man viel daran denkt.
Meine Betrachtung unter dem Titel „Richard W. in Bayreuth“ wird nicht gedruckt, sie ist fast fertig, ich bin aber weit hinter dem zurück geblieben, was ich von mir fordere; und so hat sie nur für mich den Werth einer neuen Orientirung über den schwersten Punkt unserer bisherigen Erlebnisse. Ich stehe nicht darüber und sehe ein, dass mir selber die Orientirung nicht völlig gelungen ist — geschweige denn dass ich andern helfen könnte!
Auf den gleichen Punkt, doch nicht bis zu dem Grade der Ausarbeitung habe ich im Frühjahr eine Betrachtung gebracht unter dem Titel „Wir Philologen.“ Kommt eine Zeit, wo wir einmal länger zusammen und uns in einander leben, so will ich Dir manches mittheilen: alles ist selbst erlebt und deshalb windet es sich etwas schwer von mir los. Ich sage das, weil ich oft nach einem Zusammensein mit Dir mir vorwerfe, dass ich Dir nicht genug mitgetheilt habe. Es ist nicht der Mangel an Offenheit, das weisst Du.
Auf dem Bürgenstock war ich inzwischen, mit Overbeck; die letzten Gäste und einzigen Bewohner! Deiner viel gedenkend. Es ist nicht der Ort für Sehnsüchtige, die Ruhe kann einen toll machen.
Am 15t. d. M. wird Fräulein von Meysenbug, auf ihrer Rückreise von Paris, bei mir sein. Vielleicht auch Gersdorff; der mir neulich seine nunmehr gefasste Absicht, sich in Berlin zu verloben, mittheilte. Wir wollen unsern Segen aus vollem Herzen dazu sprechen.
Mein geliebter Freund, vergiss mich in Deiner Noth nicht, vergiss es nicht, dass es im Wasser der Trübsal doch ein paar Balken giebt. Und wenn es kein Balken ist, so doch immer die Freundeshand, an die Du Dich anklammern darfst, es gehe nun, wie es gehe.
Ich sehe einen blauen ruhigen kalten Herbsttag draussen liegen.
Lebewohl, liebster Freund und sei meiner Freundschaft sicher.
Ebenfalls grüsst meine Schwester mit den herzlichsten Wünschen.
Der Deinige F N.
Romundt hat mir die grösste Freude durch seine Mittheilungen gemacht. Er ist wie genesen und fühlt sich auch so: dafür hat er sich als Schulmeister (Griechisch in Secunda I und II, Deutsch in Prima) sehr zu placken. Es war zum Heil.