1875, Briefe 412–495
480. An Malwida von Meysenbug in Paris
<Steinabad,> 11 August 1875.
Hochverehrte Freundin
es ist nicht Undankbarkeit, sondern Noth, was mich so lange verstummen machte, das glauben Sie mir wohl gern. Ich weiss nichts besseres als daran zu denken, wie ich doch in den letzten Jahren immer reicher an Liebe geworden bin; und dabei fällt mir Ihr Name und Ihre treue tiefe Gesinnung immer zuerst mit ein. Wenn mir nun die Möglichkeit fehlt, solchen, die mich lieben, Freude zu machen, ja selbst der Glaube daran, so fühle ich mich ärmer und beraubter als je — und in so einer Lage war ich. Es war mir, meiner Gesundheit wegen, so aussichtslos zu Muthe, dass ich glaubte, ich müsste nun unter-ducken und wie an einem heissen drückenden Tage nur eben unter der Schwüle und Last so fortschleichen. Alle meine Pläne veränderten sich darnach und immer überlief’s mich schmerzlich bei dem Gedanken: deine Freunde haben besseres von dir erwartet, sie müssen nun ihre Hoffnungen fahren lassen und haben keinen Lohn für ihre Treue. — Kennen Sie diesen Zustand? Ich bin jetzt über ihn wieder hinaus, weiss aber nicht, auf wie lange — doch mache ich wieder Entwürfe über Entwürfe und suche mein Leben in einen Zusammenhang zu bringen — ich thue nichts lieber, nichts angelegentlicher, sobald ich nur einmal wieder allein bin. Daran habe ich einen förmlichen Barometer für meine Gesundheit. Unsereins, ich meine Sie und mich, leidet nie rein körperlich, sondern alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen, so dass ich gar keinen Begriff habe, wie ich je aus Apotheken und Küchen allein wieder gesund werden könnte. Ich meine, Sie wissen und glauben das so fest wie ich und ich sage Ihnen etwas recht Überflüssiges!
Das Geheimnis aller Genesung für uns ist, eine gewisse Härte der Haut wegen der grossen innerlichen Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit zu bekommen. Von aussen her darf uns wenigstens so leicht nichts mehr anwehen und zustossen; wenigstens quält mich nichts mehr als wenn man so auf beiden Seiten ins Feuer kommt, von innen her und von aussen. — Meine durch die gute Schwester eingerichtete Häuslichkeit, die ich in den nächsten Tagen kennen lernen werde, soll für mich so eine neue feste harte Haut werden, es macht mich glücklich, mich in mein Schneckenhaus hineinzudenken. Sie wissen, nach Ihnen und einigen wenigen strecke ich die Fühlhörner immerdar mit Liebe aus, verzeihen Sie den thierischen Ausdruck.
Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, das Beste wünschend
Ihr allzeit getreuer Friedrich Nietzsche.