1875, Briefe 412–495
491. An Franziska Nietzsche in Dreifelden
Basel den 18 October 1875.
Mit großem Bedauern, meine liebe gute Mutter, habe ich davon gehört, daß Du Deinen Baseler Besuch wieder hinausgeschoben hast. Wir leben hier so angemessen für uns gerade, daß Du lachen wirst, wenn Du es mit ansiehst. Es geht so ruhig zu, wie es im Hause eines geistigen Arbeiters zugehen muß: es giebt gleichsam fortwährende Windstille. Die unangenehmsten Abwechslungen bilden nur meine Krankheits-Rückfälle (so lag ich leider wieder meinen Geburtstag zu Bett, mit all den alten Symptomen) Aber wenn diese bösen Gäste abgerechnet werden, erleben wir viel Freude an unsern Gästen, so zuletzt noch an Gersdorff. Es scheint, Lisbeth und ich, wir laufen wie zwei gute Pferdchen im Geschirr neben einander her und thun uns kein Leides; vielmehr im Gegentheil. Nun Du wirst alles sehen.
Mit dem herzlichsten Danke habe ich Deine Glückwünsche empfangen; ich selber verzichte allmählich immer mehr darauf, mit meinen Wünschen für mich in’s Spezielle zu gehn, sondern suche nur so gut als möglich das, was mich trifft, zu nützen, sei dies nun Gesundheit oder Krankheit, Regen oder Sonnenschein. Will man Erkenntniß vom Leben haben, so kann man sie von allem und jedem ernten, da verlernt man fast das Wünschen.
Eine so ungeheure Masse Obstes und so schönen Obstes erschien eines Tages an unsrer Hausthür, daß wir uns nicht satt sehen, wohl aber sehr satt essen konnten; zum ersten Male wagte ich es wieder, Früchte zu essen, und es bekam mir auch gut. Sonst bin ich freilich noch sehr zur Vorsicht angehalten, und aus guten oder vielmehr schlimmen Gründen scheue ich sehr gebranntes Kind sehr das Feuer. Das wird aber sich ändern, und hoffentlich findest Du mich, wenn Du hierher kommst, schon bei dieser glücklichen Veränderung.
Der Winter ist hier vor der Thüre, wir haben trübes und unruhiges Wetter wochenlang gehabt.
Dem Onkel Oskar und seiner guten Frau unsre allerfreundlichsten Empfehlungen.
Leb wohl, meine liebe Mutter und empfange den herzlichen Dank Deines Sohnes
Fritz.