1875, Briefe 412–495
487. An Carl von Gersdorff in Ostrichen
Basel 26 Sept. 1875 Sonntag.
Mein geliebter Freund, gestern lief das Semester zu Ende, mein dreizehntes Semester, und von heute an giebt es vierzehn Tage Ferien. Gern hätte ich eine kurze Fussreise gemacht, denn mich verlangt im Herbst immer darnach, den Pilatus noch einmal bevor es Winter wird zu sehen; je länger ich nun in der Schweiz bin, umso persönlicher und lieber wird mir dieser Berg; aber draussen ist es schauerlich nass und früh-novemberlich, ich werde warten oder verzichten müssen — wie so oft im Leben. Man merkt doch recht, dass man die Zwanziger Jahre hinter sich hat. Eine gewisse Art von Enttäuschung, aber eine solche, welche zur eignen Thätigkeit spornt, wie die frische Luft des Herbstes, begleitet mich jetzt fast aus jedem Tag in den andern.
Also inzwischen habe ich mit Hülfe meiner Schwester mich häuslich eingerichtet, und es ist gut gelungen. So bin ich endlich, seit meinem dreizehnten Lebensjahre, wieder in traulicheren Umgebungen, und je mehr man sich aus allem, was Andre erfreut, exilirt hat, um so wichtiger ist, dass unsereins seine eigne Burg hat, von wo man zusehen kann und wo man vom Leben sich nicht mehr so gehudelt fühlt. Ich habe es durch das glückliche Wesen meiner Schwester, das mit meinem Temperament auf das beste zusammenstimmt, vielleicht günstiger getroffen als sehr viele Andere; unsere Nietzschische Art, die ich mit Freude selbst an allen Geschwistern meines Vaters wiedergefunden habe, hat nur am Für-sich-sein seine Freude, weiss sich selber zu beschäftigen und giebt eher den Menschen als dass sie viel von ihnen fordert. Dabei erträgt es sich vortrefflich, als Denker und Lehrer zu leben — wozu man nun einmal sich verurtheilt fühlt.
Ich knüpfe an dieses Lob meiner begonnenen Häuslichkeit das Lob Deines Entschlusses oder vielmehr den herzlichen Ausdruck meiner Freude, Dich überzeugt und entschlossen zu sehen, eine gute Ehe zu schliessen. Bringe aber ja in diesem Herbste die ganze Angelegenheit durch eine Reise nach Berlin in’s Reine und Fertige, ich rathe es Dir nur mit dem Wunsche, dass Du nicht zu lange am fürchterlichsten Elemente des Lebens, an der Ungewissheit leiden mögest.
Darf ich glauben, dass wenn Du mich noch vor Anfang Deines Semesters besuchst, Du mir eine glückliche Nachricht mitbringst? Im andern Falle stelle ich mir vor, dass eine neue Berliner Winter-Saison Deinem Vorhaben ernstlich gefährlich werden könne. — Doch davon verstehe ich wenig.
Unser Freund Rohde, der immer in den Unglückstopf des Lebens zu greifen pflegt und sich gewöhnlich etwas Herbes herausloost, war hier bei mir und meinte zuletzt, es sei der einzige Ort auf der Erde, wo er sich noch zu Hause fühle. Von der grässlichen Lage, in der er sich befand, mag ich brieflich nichts sagen; er wurde durch einen Brief des Vaters der Dame an einer ganz besonders verwundbaren Stelle getroffen und quälte sich sehr. Er reiste von hier nach München und hörte dort den Tristan, mit übermässiger Erschütterung. In den nächsten Tagen wird er wohl in Rostock sein, wo er an der Philologen-versammlung Theil nimmt und einen Vortrag „über die Novelle bei den Griechen“ hält. — Ich habe bei diesem Zusammensein mit R. mehr gehabt als bei allen bisherigen, er war in seltenem Grade vertrauend und liebevoll, so dass es mir herzlich wohl that, ihm in der absurden Lage noch etwas sein zu können, jetzt wo sein Leben sich um ein kleines Mädchen dreht — der Himmel behüte Dich und mich vor gleichem Schicksale! —
Nun kommt auch bald unser Baumgartner zurück, er wird der Insasse meiner früheren Wohnung. Mannichfaltig zurechtgewiesen und belehrt kehrt er heim, er hatte mancherlei Unglück: so stürzte er neuerdings sehr gefährlich mit seinem geliebten Pferd, kam selber noch davon, musste aber das Pferd sofort erschiessen.
Mit J. Burckhardt geht es immer gut. Ich hörte gestern, er habe sich in Lörrach zu einem vertrauten alten Freunde über mich ausgesprochen, sehr günstig, man wollte mir gar nicht sagen, wie. Nur das Eine erfuhr ich: er habe gemeint, einen solchen Lehrer würden die Basler nicht wieder bekommen.
Man rückt jetzt wieder an unsrer Sommerferien-ordnung. Im ungünstigen Falle ist es möglich, dass die Bayreuther Feste nächstes Jahr und die Jahre darauf mich nicht sehen werden; höchstens dass man mir einmal Urlaub für ein paar Tage giebt. Es kann aber auch günstiger werden als es bis jetzt ist: wenn nämlich der ganze Monat August als Ferienzeit festgesetzt würde. Komme es nun, wie es wolle, ich will schon zusehn, nicht ganz darum betrogen zu werden, wie dies Jahr.
Mit meiner Gesundheit verbinde ich gute Hoffnungen, wenn ich die neue Lebensweise fortführe, die ich jetzt seit den Ferien auf Rath des Dr. Wiel eingerichtet habe. Ich esse alle 4 Stunden: um 8 Uhr ein Ei, Cacao und Zwieback, um 12 ein Beefsteak oder etwas Andres von Fleisch, um 4 Uhr Suppe Fleisch und wenig Gemüse, um 8 Uhr kalten Braten und Thee. Jedermann zu empfehlen! Ein Gleichgewicht ist da erreicht, bei dem man an Verdauungs-fiebern der gewöhnl. Diners nicht zu leiden hat.
Doch giebt es Rückfälle meines Magenleidens; und sehr viel guten Willen gesund zu werden, muss ich haben. —
Für die Besorgung der Briefe, welche ich nach Bayreuth schickte, danke ich sehr; beide sind angekommen, und von beiden Seiten sind auch Antworten darauf eingetroffen. —
Sehr gute Nachrichten von Romundt! Wie ich mich freue! Ein Brief mit völliger Veränderung der Gemüthsart traf ein, wie von einem Genesenden. Er hat mehr zu thun und zu placken als je im Leben, aber er fühlt die segensreiche Wirkung und sagt selbst, es müsse sich inzwischen etwas in ihm gedreht haben. Er ist Gymnasiallehrer in Oldenburg und hat bis jetzt den ganzen griechischen Unterricht in Unter- und Obersecunda gegeben und bekommt von jetzt ab das Deutsch für Prima. Und es geht! Seine Adresse ist per adr. Frau Oberjustizrath Mencke, Petersstr. 17. Oldenburg im Grossherzogthum.
Miaskowski geht also Ostern nach Hohenheim, die Sache ist also erledigt, nachdem sie lange schwebte.
Meine Addresse ist: Spalenthorweg 48.
Liebster Freund, Litteratur mache ich nicht, der Ekel gegen Veröffentlichungen nimmt täglich zu. Wenn Du aber kommst, will ich Dir etwas vorlesen, was Dir Freude machen wird, etwas aus der unpublicirbaren Betrachtung Nr. 4 mit dem Titel „Richard Wagner in Bayreuth“. — Stillschweigen erbeten.
Lebe wohl, mein Getreuester
und Geliebter.
Dein F N.
Die besten Grüsse auch von meiner Schwester.
Bitte, empfiehl mich Deinen verehrtesten Eltern. — Sei guten Muths. Du darfst es sein.