1875, Briefe 412–495
493. An Carl von Gersdorff in Hohenheim
<Basel,> Dienstag den 16. Nov. 1875.
Mein lieber Freund, ich schreibe um Dir zu sagen, daß ich nicht schreiben kann; der Alp der Überarbeitung sitzt neben mir und alle paar Wochen auch auf mir: wo ich mich dann in der Dir bekannten Weise leidvoll und schleimvoll in mein Schlafzimmer zurückziehe. Wenn alles gut am Tage geht und gar kein unvorhergesehenes Elend mich faßt, werde ich mit der Tagesarbeit gerade fertig und strecke dann alle Viere von mir. Hauptcolleg 10 Mann, Nebencolleg 6 Mann, Seminar 10 Mann und wirklich viel guter Wille und auch mehr Talent als früher darunter.
Ich gehe gar nicht mehr zu Besuchen aus; wenn ich ermattet bin, liest mir meine Schwester etwas Walter Skott. Allergrößte Bewunderung für Robin den Rothen!
Heute ist Overbecks des Treuen Geburtstag. Zwei junge Musiker aus Leipzig sind als Verehrer meiner Schriften an die hiesige Universität gekommen und hören bei Overbeck und mir Collegien. Meine Ferien im Nächsten Sommer sind festgesetzt, von 15 Juli bis 13 August. Ich kann doch viel mitnehmen, wenn mir nur der Zutritt zu den Proben erlaubt würde! Vielleicht auch kann ich ein paar Tage mich vertreten lassen.
Wenn ich es nur bis dahin aushalte! Mich schaudert mit unter, die Arbeit ist zu groß.
Verzeih, daß ich soviel von mir rede.
Noch eins: kannst Du mir vielleicht gerade jetzt etwas leihen, 100 Thaler, eventuell auch 50 thun es. Rückzahlung wird versprochen Ostern 1877, ebenfalls werde ich 5 Prozent Zinsen zahlen. So eine neue Einrichtung wie ich sie jetzt habe macht das Berechnen für die erste Zeit etwas schwierig, ich möchte niemanden lieber als Dich um diesen Dienst ersuchen. Verzeihung!
Dir mag es besser gehen als mir es geht, liebster Freund. Das wünsche ich von Herzen, und wirklich ist an meine Freunde zu denken immer noch das Einzige, was mich etwas mit dem Dasein versöhnt, das mir sonst immer sinnloser erscheint. Diese Mühe! diese Hast! Dieser naive Glauben jedes Menschen, daß um ihn die Sonne und alle Welt sich dreht! Ich strotze von Erfahrungen dieser Art und möchte lachen, wenn ich nur könnte.
Dein getreuer
Friedr Nietzsche.
Meine Schwester grüßt mit mir von ganzem Herzen.