1875, Briefe 412–495
474. An Erwin Rohde in Bayreuth
Steinabad bei Bonndorf badischer Schwarzwald. 1 August 1875
Heute, geliebter Freund, denke ich mir, werdet Ihr in Bayreuth zusammentreffen, und ich werde Euch und unter Euch fehlen! Es geht nicht, was ich bisweilen im Stillen doch glaubte — mitten in Eurem Kreise eines Tages ganz plötzlich dazusitzen und mich meiner Freunde recht zu erlaben! Es geht nicht, heute, in der Mitte meiner Ferien kann ich es endlich mit Bestimmtheit sagen. Eben hatte ich ein längeres Gespräch mit Dr. Wiel, und gestern lag ich wieder mit heftigen Kopfschmerzen zu Bett und mußte nach-Mittags und Nachts mit heftigen Erbrechungen mich quälen. Das leicht erkennbare eine Übel, die Magenerweiterung, haben wir in den 2 Wochen der Kur mit schon recht glücklichem Erfolge bekämpft. Der Magen ist in sich gegangen. Aber mit der nervösen Affektion desselben soll es eine langwierige Sache sein. Hier heißt es, in der Kurmethode streng sein und die Geduld nicht verlieren! Ich hatte einige recht gute Tage, frisches kühles Wetter und zog in den Bergen und Wäldern umher, immer allein, aber ich kann gar nicht sagen, wie angenehm und freudig beseelt! Ich würde es gar nicht auszusprechen wagen, was für Hoffnungen und Wahrscheinlichkeiten und Pläne es sind, an deren genauester Vergegenwärtigung ich mich dabei letze! Dann war fast jeder Tag durch einen guten liebevollen Brief bezeichnet; immer denke ich mit Stolz und Rührung daran, daß Ihr mir angehört, meine geliebten Freunde! Wenn man nur etwas Glück zu verschenken hätte! Sorge und Mißmuth quält mich am meisten da, wo ich sehe, daß man zu nichts nütze ist und die Dinge laufen lassen muß, so unbarmherzig sie auch sind. Und dann erscheint es mir bisweilen, als ob ich selbst etwas von einem Glückspilz wäre und den härtesten Angriffen der Leiden immer noch entgangen sei. Besonders an den Dummheiten und Bosheiten des Schicksals habe ich noch gar nicht recht laborirt und bin gar nicht würdig, mich unter der Schaar der wirklich Unglücklichen sehen zu lassen. Also: ich wollte sagen, daß ich eigentlich etwas Glück zu verschenken hätte. Wüßte ich nur wie! Und zumal wie man Dir, mein armer Freund, nur eine kleine Linderung verschaffen könnte! Oder das Geheimniß zu kennen, die große Linderung herbeizuführen!
Es ist Sonntag und rings im Garten sitzen viele Bonndorfer und trinken Bier, die Luft weht ganz rein von den Wäldern her und von Zeit zu Zeit ertönt eine scheußliche Blechmusik, die, mit einer Dosis von 2 Stunden Entfernung, vielleicht erträglicher ist und an das Waldhorn erinnern mag.
Ich habe hier keinen Menschen und führe ein ganz vornehmes unabhängiges Leben. Der Dr. Wiel will zu meiner Erheiterung und Belehrung morgen einmal mit mir kochen, er ist ein berühmter denkender Kochkünstler und Verfasser eines viel gebrauchten, in alle Sprachen übersetzten diätetischen Kochbuchs. Gestern hielt er mir einen Vortrag über émaillirtes Eisengeschirr und die neue Fleischhackmaschine, und so lerne ich etwas für meine neue Wirthschaft.
Ich lege ein Curiosum bei, das mir vor einer Woche aus Würtenberg zukam; es ist von der bekannten Würtemberger élégance der Empfindung und des Ausdrucks. Ein Brief von Romundt hinterließ bei mir verdrossene Stimmung, wie er denn selbst von keiner besseren beseelt war.
(Jetzt rast die Blechmusik in der unverständigsten Weise; wo nur die Leute die schlechte Musik herhaben mögen! So etwas habe ich nie gehört, es ist nicht Marsch, nicht Tanz, sondern ein altmodisches und doch hundsgemeines Gedudel, vom vorigen Jahrhundert her)
Also Romundt erzählt von seiner bisherigen Arbeit, „die auf eine Illustration des Schopenhauerischen Nichts
(eben hört die Musik auf und die Bonndorfer klatschen!)
am Schluss der Welt als Wille etc. hinauslaufe, des kühnsten schwersten und wahrsten Wortes, welches nach meiner Meinung uns Schopenhauer gesagt hat.“ Mich verdrießt so etwas im höchsten Grade, es ist die alte Narrethei, sich an den Schwanz einer Philosophie zu hängen und gerade den zu illustriren! Und was gehört für eine Unbescheidenheit dazu, dort genauer und heller sehen zu wollen und zu illustriren, wo Sch. aufhörte, überhaupt zu sehen. — Dann schreibt er, daß ihm sein Schüler Schenkel „seinen schmählichen Abfall zu Beck in Tübingen gemeldet habe.“ Nun, das ist nicht zu verwundern, nur sollte doch R. das Wort schmählich nicht so schnell in den Mund nehmen. Ich halte einen Abfall von Romundtscher Philosophie nicht für schmählich, sei es selbst zu Beck in Tübingen. Dieser Student Schenkel hat eben nur den Übergang von einem unklaren Pfaffen zu einem klaren und erklärten Pfaffen gemacht. — Aber am meisten verdroß mich, daß er mit unserm Overbeck gar nicht zusammengetroffen ist und nicht so viel Sehnsucht hatte, ihn jetzt nach seiner Genesung zu begrüßen. Das sieht wirklich aus wie schlechtes Gewissen, und in der That, er scheint die guten Absichten bei seiner Abreise wieder ganz in den Wind geschlagen zu haben. Denn er schreibt — ich hoffe, dass die Schulmeistern mir Zeit lässt meine Sache zu fördern. Ich hoffe das Gegentheil und wünsche, daß er durch den strengsten Zwang von seiner Sache ferngehalten würde, die Sache ist jetzt so unschuldig nicht mehr, sie verdirbt seinen Charakter, müssen wir wohl jetzt fürchten! — Der Winter mit dem Romundtschen Hausleiden ist mir wie ein gräßlicher Traum, es stülpte sich alles in mir um, und ich wurde voll des bittersten Mißtrauens, habe mich auch nicht von dieser absurdesten Erfahrung erholt.
Frau Baumgartner, die beste Mutter, die ich kenne, hat mir ein paar Mal auf das Liebevollste geschrieben. Ihr Sohn Adolf hat schwere und desperate Wochen durchgemacht, es scheint, daß die militärischen Dinge ihn fast zum Äußersten getrieben haben, so daß Frau B. nach Bonn reiste, um ihn etwas zu trösten. Die Art, wie sie das gethan hat und wie sie es erzählt, ist wie Sonnenschein; es ist eine ganz gute Seele.
Überall Desperation! Und ich habe sie nicht! Und bin doch nicht in Bayreuth! Wie sich das reimt, begreifst Du’s? Ich begreife es fast nicht. Und doch bin ich mehr als drei Viertel des Tages im Geiste dort und schwärme wie ein Gespenst immer um Bayreuth herum. Du darfst nicht fürchten, mir die Seele zu lüstern zu machen, erzähle nur ein Bischen Viel, liebster Freund, ich dirigire mir auf meinen Spaziergängen oft genug ganze Theile der Musik, die ich auswendig weiß und brummle dazu. Grüße Wagner’s auf das Innigste! Adieu, ihr geliebten Freunde, mein Brief ist hier und da etwas collektivisch geworden. Es liebt Euch von Herzen Euer
F.
Ist Schuré da? Ich will ihm schreiben. Was ist seine Addresse? Und welches ist die Addresse von Frl von Meysenbug?
Herzlichsten Dank, liebe Freunde Overbeck und Gersdorff für Eure Briefe! Ich genoß sie morgens nach dem Karlsbader Wasser, bei einem Waldspaziergang, immer von Zeit zu Zeit einen Schluck. Du, lieber Freund Rohde, kamst Nachmittag zum Milchkaffé an, zusammen mit Schmeitz<n>er und Asher!