1875, Briefe 412–495
418. An Paul Deussen in Aachen
Basel Mitte Januar 1875. <nach dem 17. Januar>
Du hast mir wirklich lieber Freund eine recht grosse Freude mit Deinem Briefe gemacht. Wenn sich alles so verhält, wie Du es schilderst und Du die entsprechende Energie, um solche Pläne durchzuführen hast — oder bewahrst, wie ich sagen könnte, so bekommt wirklich Dein Leben in seltnem Grade den Character des Vernünftigen und Gemeinnützlichen. Ich lobe sehr Deine Absicht, Dich durch einige Jahre strengeren Frohndienstes für alle übrigen Jahre des Lebens ganz und gar unabhängig zu machen; werde in der Durchführung dieses Planes ja nicht unsicher! Es ist kaum auszudrücken, was Du damit Dir gewinnst und welcherlei Gefahren Du damit den Weg verlegst. Und noch höher erscheint dieser Plan, wenn Du für die zukünftige so schwer errungene Mussezeit ein so edles Lebenswerk Dir vorgesetzt hast, wie es das ist, die indische Philosophie durch gute Übersetzungen uns zugänglich zu machen. Wüsste ich ein Mittel, um Dich zu einer solchen Lebensrichtung zu ermuthigen, wie gern wollte ich Dich ermuthigen! Mein Lob kann Dir nicht genügen, vielleicht schon eher meine Begierde, selber aus jener Quelle zu trinken, welche Du uns allen einmal öffnen willst.
Wenn Du wüsstest, mit welchem Missmuthe ich gerade immer an die indischen Philosophen gedacht habe! Was ich empfinden musste, als Prof. Windisch (der sich mit den philosophischen Texten sehr befasst hat, in London einen Katalog von c. 300 philosoph. Schriften verfasst hat!) mir sagen konnte, als er mir eine Sankhya-Schrift im Manuscript zeigte „Sonderbar, diese Inder haben immerfort philosophirt, und immer in die Quere!“ Dieses „immer in die Quere“ ist bei mir sprüchwörtlich geworden, um die Unbefähigung unsrer indischen Philologen, und ihre gänzliche Roheit zu bezeichnen. Ὄνος πρὸς λύραν. Der alte Brockhaus hielt vor ein paar Jahren in Leipzig eine Rectoratsrede mit einem Überblick über die Resultate der indischen Philologie — aber von Philosophie war alles stumm, ich glaube, er hatte sie zufällig vergessen.
Also: Du sollst gepriesen sein, dass Du sie nicht auch zufällig vergessen hast.
Wie glücklich erscheint jetzt Deine vorausgegangne Beschäftigung mit Kant und Schopenhauer! Du hast eine schöne Art entdeckt, diesen Lehrmeistern Deine Dankbarkeit auszudrücken.
Overbeck und Romundt sind, ebenso wie ich, voll Deines Lobes; und letzterem bist Du bereits mit einem so vernunftvollen Lebensplane vorbildlich und ermuthigend erschienen. Er verlässt Ostern die Universität und überhaupt das akademische Philosophenthum und sucht eine Lehrerstelle. —
Beiläufig: Du hast mir vor einiger Zeit einmal gemeldet, dass Du durch Basel mit einem bestimmten Zug durchkommen würdest. Natürlich war ich auf dem Bahnhofe, zog aber schliesslich traurig ab, nachdem ich alle Menschen, welche der Genfer Zug brachte, gemustert hatte und Dich nicht darunter fand.
Das musst Du aber irgend wann einmal wieder durch die That gut machen, nicht wahr, lieber Freund?
Und nun lebe wohl! Meine Segenswünsche sollen mit Dir sein.
Dein Friedrich
Nietzsche.