1875, Briefe 412–495
439. An Carl von Gersdorff in Hohenheim
Basel 17 April 1875.
Endlich, liebster Freund, kommt Nachricht, endlich! Aber Du bist nicht böse. Wie gut wir uns zusammen vertragen, ist ja so erstaunlich, dass es bei jedem Darandenken mich zur Bewunderung und zum Dankgefühl begeistert. Ich glaube wirklich, wir können gar nicht auf einander böse sein; wir haben uns an die schönste Vertraulichkeit unter einander gewöhnt, so dass alles Schleichende, Grämliche, Übelnehmerische aus unserem Verkehre verscheucht ist, das heisst aber gerade die Ratten, die sonst an den besten Freundschaften zu nagen pflegen.
Ich schreibe heute scheuslich, meine Feder inspirirt mich zur Idee des Klexes und des Schmirakels.
Habe herzlichen Dank für Brief und Sendung, vor allem aber für Deinen Besuch; ich kam über jene Wochen hinweg wie in einem ganz angenehmen Traume; darauf brach die Romundtische Mirakel- und Ratten-Wirthschaft wieder los, es war um alle Geduld zu verlieren, heftige Abende bis um die Stunde Eins wurden zur Regel; die Buchhändler-Absicht verflog nach dreiwöchentlicher Besprechung in alle Winde, denn ich musste förmlich Romundten eine Anleihe bei meiner Phantasie eröffnen, weil er sich gar nichts Kommendes und Mögliches vorstellen kann. Overbeck und ich dachten mehr an das was ihm noth that als er selber, alle Augenblicke verfiel er wieder in Lässigkeit; das ganz Unentschiedne seines Wesens kam noch am Tage der Abreise fast auf eine komische Spitze, als er nämlich einige Stunden vor der Abreise nicht fort wollte; Gründe gab es nicht und so setzten wir es durch, dass er Abends reiste; es ging leidenschaftlich traurig zu und er wusste und sagte es immer wieder, dass nun alles Gute und Beste, was er erlebt habe, zu Ende sei; er bat viel weinend um Verzeihung und wusste sich nicht vor Trauer zu helfen. Eine eigenthümliche Schrecklichkeit brachte mir noch der letzte Augenblick; die Schaffner schlossen die Wagen zu, und Romundt um uns noch etwas zu sagen, wollte die Glasfenster des Coupés herunter lassen, diese widerstanden, er bemühte sich immer wieder und während er sich so quälte, sich uns verständlich zu machen — erfolglos: — ging der Zug langsam fort und nichts als Zeichen konnten wir machen. Die grässliche Symbolik der ganzen Scene war mir ebenso wie Overbeck (wie er später gestand) schwer auf die Seele gefallen, es war kaum auszuhalten. Übrigens lag ich den nächsten Tag mit einem dreissigstündigen Kopfschmerz und vielem Galle-Erbrechen zu Bette.
Romundt will also Gymnasiallehrer werden, ich wusste es, dass es gemäss dem einzigen Gesetz das bei ihm waltet, dem der Schwere, so kommen müsste.
Ich dachte mir, er werde etwas von Deiner Rüstigkeit im Unternehmen des Schweren und Neuen gelernt haben. —
Mir ist es nicht gerade gut ergangen bei alledem; das ekelhaft lange Winter-halb jähr ist noch nicht zu Ende! Erst nächsten Donnerstag bekomme ich etwas Freiheit.
Meine Arbeit ist fast nicht von der Stelle gerückt. Doch bin ich wieder dabei und will mich ordentlich dazu halten, die freien Tage zu nützen.
Meine Schwester ist seit Ostern wieder zu Hause. Denke Dir, dass in Bayreuth nicht weniger als 7 Personen (drei Erwachsene und vier Kinder) das Haus Wagner’s verlassen mussten: die ganze Berliner Sippschaft nämlich! Nur die Baiern haben sich brav gezeigt. Für alle diese ist nur eine einzige Person, ein neuer Diener anzuschaffen: denn seitdem giebt sich Frau W<agner> selbst von früh bis Abend mit dem Hauswesen ab.
Concerte in Berlin usw. stehen bevor, das weisst Du. Die Götterdämmerung erscheint am 1ten Mai im Klavierauszug. Doch das ist auch nichts Neues.
Was machen die Liebes-Angelegenheiten? Man muss dem Schicksale hier und da einmal eine Tatze geben.
Lebewohl, mein herzlich geliebter Freund. Overbeck und Frau Baumgartner grüssen Dich auf das Wärmste. Am Samstag waren wir mit Herrn Cook, dem Freunde Proudhon’s zusammen; es war toll. Übrigens ist er der Sohn eines vornehmen Oestreichers und einer Spanierin von den Balearen. Viel Geheimnissvolles.