1875, Briefe 412–495
427. An Richard Wagner in Bayreuth
Luzern Montag den 15ten Febr. 1875.
Geliebter Meister
Sie werden sich über mich wundern, aber hoffentlich nicht böse sein, wenn ich heute nichts als einen Bettelbrief schreibe. —
Frau Baronin Moltke, Schwägerin des Generals, bittet durch mich um eine Ihrer Photographien und zwar um eine mit Ihrem Namen unterzeichnete. Der Zweck ist ein guter, wohlthätiger; verzeihen Sie also einmal das unbescheidene Mittel und den unbescheidenen Vermittler. —
Es soll, wenn möglich, nicht wieder geschehen, wie die kleinen Kinder sagen. Ich lege den Brief der Frau von Moltke bei.
Augenblicklich bin ich auf der Flucht vor dem Baseler Trommellärm; nicht länger als 4 Stunden hielt ich’s aus, dann bin ich Hals über Kopf fort gereist und befinde mich jetzt in Luzern, im tiefsten Schnee und Schneegestöber.
Arbeitsamer Winter! Aber es kann mich nichts Übles anwehen, weil ich an das glaube, was der Sommer bringt.
Mit den innigsten Grüssen
Ihr treuer Friedrich Nietzsche.
Eben merke ich, daß ich den Brief nicht beilegen kann, weil ich ihn nicht mitgenommen habe; in der Eile habe ich etwas Falsches eingesteckt, das Schreiben des Redacteurs der Berliner „demokratischen Zeitung“, welcher sich mir „als harmlosen, aber mit dem besten Willen ausgerüsteten Bundesgenossen“ empfiehlt. — Frau von Moltke lebt mit ihren zwei Töchtern bei dem Feldmarschall, der selbst familienlos ist und die Kinder seines Bruders wie seine eignen behandelt. — Die mir aus Lugano bekannt gewordne Frau hat grosses Zutrauen zu mir; ich würde mich sehr freuen, auch in dem heutigen Falle ihr Vertrauen nicht zu Schanden werden zu lassen. — Es ist eine herrliche Stille um mich.