1875, Briefe 412–495
413. An Emma Guerrieri-Gonzaga in Florenz
Naumburg. Den 2 Januar 1875.
Also verehrte Frau! Wir müssen uns einstweilen hinein fügen, dass unsere Übereinstimmung keine völlige, vor allem noch keine grundsätzliche ist. So nämlich habe ich Ihre Empfindung mir gedeutet, wie Sie mir dieselbe mit der dankenswürdigsten Offenheit mittheilten: ich meine, Ihre widerstrebende Stimmung ging diesmal über das zunächst vorliegende Buch hinaus und brachte es zu einem allgemeinen Zweifel und Bedenken in Betreff aller meiner Wege und Ziele. Denken Sie, dass mir Ihr Brief zumal als eine Antwort auf die „Historie“ erschien; als ob Sie nämlich jetzt dahin gelangt seien, das darin ausgesprochene Allgemeine jetzt so in der Nähe zu sehen, wie ich es etwa gewohnt bin anzusehen: wobei Sie erschraken und an den Allgemeinheiten selbst irre wurden.
In diesem Zweifel muss ich Sie nun belassen, denn ich habe gar kein Vertrauen zu brieflichen Aufklärungen so complicirter Dinge; wobei zuletzt doch jeder nach seinem Maasse, ich meine nach seinen Erfahrungen und Bedürfnissen misst. Über die eigentlichen Missverständnisse wird Sie Ihr reiner und zum Wahren strebender Sinn selbst besser aufklären und vor allem fruchtbarer aufklären als das irgend ein Brief vermöchte; fragen Sie sich, ich bitte, z. B. darnach, ob ich ein Feind des nationalen Gefühls bin und ob ich das deutsche Reich verunglimpfe, oder ob nicht viel mehr — — doch nein, in solchen Dingen sollen Sie mich rechtfertigen, nicht ich mich. Aber abgesehn von den Missverständnissen — nicht wahr, Sie verzeihen es, wenn ich ganz unbefangen das Wort gebrauche? — so wünschte ich, Sie möchten im Ganzen noch einmal oder zweimal den Versuch machen, einen neuen Gesichtswinkel (Gefühlswinkel?) für diese letzte Schrift zu gewinnen, Sie möchten nicht von vornherein zu hastig darauf ausgehen, das für Sie zunächst Wesentliche finden zu wollen. Der Weg von dem Schopenhauerischen Erzieherthum bis zu dem einzelnen Individuum ist noch sehr lang, und selbst das, was ich über diesen Weg noch zu sagen habe, — der Inbegriff der noch übrigen 10 Unzeitgemässen Betrachtungen — ist noch sehr viel. Ein wenig Geduld! —
Nein, verehrteste Frau, es darf nicht so sein, dass Sie von einer heroischen Musik einen deprimirenden Eindruck davon tragen. Es heisst dies wirklich nicht, verlangen dass Sie männlich empfinden sollen. —
Leben Sie wohl und bleiben Sie geneigt
Ihrem ergebensten
Friedrich Nietzsche