1885, Briefe 568–654
653. An Elisabeth Förster in Naumburg
Nice (France), rue St. François de Paule 26 II 20. Dez. 1885.
Mein liebes Lama,
hoffentlich ist kein Brief verloren gegangen; controliren kann ich es nicht mehr. Zuletzt bin ich vielleicht im Rückstande geblieben, weil es mit der Gesundheit nicht gut gieng: ich mag nicht viel davon reden, — da läßt man das Briefschreiben lieber ganz. Sieben Jahre Einsamkeit sind nunmehr vorbei, im Grunde bin ich ganz und gar nicht für Einsamkeit gemacht, und es begegnet mir jetzt, wo ich nicht mehr absehe, wie ich sie loswerde, beinahe alle Wochen ein so plötzlicher Lebensüberdruß, daß es mich krank macht. Meine Diät kommt mir recht vernünftig vor, Mittags trinke ich Milch zu etwas Grahambrod, Abends um 6 bin ich in der Pension de Genève zu Gaste, wo so gekocht wird, daß mein Magen dabei seine Rechnung findet. Schlafmittel brauche ich nicht mehr; wenigstens kommt mir das Seidel Münchener Kindl-Bräu, das ich öfter einmal zu mir nehme, mehr wie ein Verdauungsmittel vor, es ermüdet mich nicht. Gegen Grog habe ich jetzt einen Widerwillen. In meinem Zimmer friere ich leider zu stark, jetzt wo auch wir bis zu 4 Grad unter Null (gelegentlich —) hinab sinken; auch giebt es miserable Störung durch Musik, rechts durch ein Kind, das Tonleitern stümpert, hinter mir durch eine Violine und durch einen Trompeten-Virtuosen. So sehne ich mich auch hierin nach einer Verbesserung, doch nicht mehr für diesen Winter, wo ich aushalten will. Das Schlimmste ist, daß mir die menschlichen Ressourcen jeder besseren Art fehlen, ja daß ich kaum noch Menschen weiß, von denen ich wünschte, daß sie hier leben möchten. Ich hätte Köselitzen gerne hier, weil es jetzt der einzige Musiker ist, dessen Geschmack mir „schmeckt“ — und weil er einsiedlerisch und anspruchslos für sich zu leben versteht. Aber es ist mir mehr nöthig als nur gelegentlich einmal Musik. —
Inzwischen ist auch das allerliebste Maschinchen angelangt; gebraucht habe ich es noch nicht, was meinst Du, welche Art Topf dazu gehört? Es soll mir viel Vergnügen machen und mich immer schön an Dich erinnern. Wie dumm, daß ich Niemanden mehr zum Lachen habe! Wäre ich bei besserer Gesundheit und reich genug, so würde ich, nur um noch Heiterkeit zu haben, nach Japan übersiedeln (zu meinem größten Erstaunen fand ich, daß auch Seydlitz inwendig diese Umwandlung durchgemacht hat, er ist artistisch jetzt der erste deutsche Japanese — lies beifolgende Zeitungsberichte über ihn!) Ich bin gern in Venedig, weil es dort leicht japanesisch zugehn könnte —, ein paar Bedingungen dazu sind da. Das übrige Europa ist pessimistisch-triste, die gräßliche Verderbniß der Musik durch Wagner ist nur ein Einzelfall der allgemeinen Verderbniß und Trübsal. —
Da fällt mir ein, daß ich noch nichts von Krugs erzählt habe. Es mißrieth: ihre Karte welche an die pension de Genève addressirt war, wurde mir überbracht, als sie eben abreisten. Ich lief spornstreichs zur Eisenbahn, um sie noch zu erwischen. Umsonst! Der Zug war fort. —
Danke unsrer Mutter schönstens für das Brillenfutteral! Es ist wirklich mir sehr nöthig gewesen — ich schleppte mich schon zu lange mit den alten Ruinen. — Nun ist es wieder Weihnachten, und es ist ein Jammer, zu denken, daß ich immerfort (wie nun schon sieben Jahre) verurtheilt bin, wie ein Ausgestoßner oder wie ein cynischer Verächter der Menschen zu leben. Es sorgt sich jetzt Niemand mehr um eine Verbesserung meiner Existenz, das Lama hat „Besseres zu thun“ und jedenfalls genug zu thun! Alle die alten Bekanntschaften sind altbacken und steinhart geworden, — wenn ich dran denke, wie ich immer fürlieb genommen habe, so erschrecke ich vor der Zukunft, ich meine vor der Wahrscheinlichkeit, mit was für Menschen ich noch fürlieb nehmen werde, aus jener Noth, welche macht, daß der Teufel Fliegen frißt. — Das ist einmal ein schöner lustiger Weihnachts-Brief! Es lebe das Lama!
F.
Warum geht Ihr nicht nach Japan? Es ist das billigste Leben und so lustig! —
Besten Dank unsrer lieben Mutter für ihren Brief, auch den Gruß der alten Pfarrerin Hamann.