1885, Briefe 568–654
593. An Carl von Gersdorff in Ostrichen
Nizza, 9 April 1885.
Mein lieber alter Freund,
ich bin sehr betrübt durch die Andeutung, welche Du mir in Betreff der Gesundheit Deiner lieben Frau machst. Nun lebe ich zwar hier an einem Orte, wo es Einem nicht an allerlei Ermuthigungen in dieser Hinsicht gebricht; es ist mir sogar erstaunlich, wie lange, wie (relativ) gut und namentlich wie heiter durchschnittlich ein solcher Zustand ertragen wird. Es scheint, wenn das Leben nicht selber eine lebensgefährliche Sache wäre, diese Krankheit würde es noch nicht dazu machen. So bitte ich Dich denn, auch bei dieser Herzenssorge Deinen Himmel hell zu erhalten, so viel es nur möglich ist.
— Was meine Angelegenheit betrifft, über welche ich Dir Mittheilung machte, so bin ich mitten im Druck; C. G. Naumann hat versprochen „diskret“, gut, billigst“, und ich habe Gründe, an seine Versprechungen zu glauben. Bei einem Worte Deines Briefes kam ich auf den Gedanken, daß zum mindesten das Motto dieses Finale Dir sehr nach dem Herzen sein werde.
Wenn Alles fertig ist, will ich Dir erzählen, wie es steht: Du kannst dann erwägen, was in Deinen Kräften steht. Du bist, mein lieber alter Freund, in dieser Sache vor mir vollkommen frei: in meiner Liebe zu Dir verrückt sich Nichts um einen Zoll, gehe es so oder so. Aber dies versteht sich, unter Menschen, wie wir sind, von selber.
— Morgen breche ich auf und gehe für ein paar Monate nach Venedig. Ich bin sehr augenleidend, und sehne mich nach dem Dunkel seiner Gäßchen. Zuletzt ist es die einzige Stadt, die ich liebe. Und dann ist der einzige Musiker dort, der jetzt Musik macht, wie ich sie liebe, nämlich unser Freund „Peter Gast“. Weißt Du wohl, was den goldigen Glanz des Glücks, was ächte Naivetät, was Meisterschaft im Sinne alter Meister betrifft, so ist dieser Köselitz jetzt unser erster Componist. Es gehört freilich eine gute Nase dazu dies herauszuriechen. Unsre Zeit ist durch die prätensiöse und übertreibende Theater-Musik R<ichard> W<agner>’s (welcher zuletzt ein Schauspieler war, ein sehr großer Schauspieler, auch als Musiker, aber nicht mehr!) arg verdorben in allen Angelegenheiten des musikalischen Geschmacks und Wohlgeschmacks. Die Oper unsres Freundes, welche absolut jetzt auf die deutschen Bühnen muß, heißt „der Löwe von Venedig“. Da wird Einem endlich einmal wieder venetianisch-wohl, wie 1770 ungefähr. —
Meine Adresse: Venezia, poste restante.
Dir und Deiner lieben Frau meine angelegensten und herzlichsten Wünsche.