1885, Briefe 568–654
629. An Franziska Nietzsche und Elisabeth Förster in Naumburg
Sils-Maria 6. Sept. 1885.
Meine Lieben,
Eure schönen Gaben und Lockspeisen sind eingetroffen — ach, es bedurfte der Lockmittel nicht, Ihr könnt es gar nicht ausdenken, wie sehr und wie lange schon eine Art von grimmigem Heimweh mich quält und mich zu der nordischen Reise zu überreden sucht. Ja, es ziehen auch noch andre Zauber mich nach Eurer Richtung: z. B. daß mit großer Wahrscheinlichkeit diesen Winter in Dresden meine himmlische Leib- und Trostmusik-Oper „der Löwe von Venedig“ zu hören ist. Und trotzdem: es geht nicht! Es geht nicht! Ich bin ein armes Thier mit meiner Gesundheit, das wißt Ihr — und es ist schlecht in diesem Jahre gegangen, bei aller Vorsicht. Das liegt daran, daß ich mich von übermäßig schweren Pflichten und Skrupeln bedrängt weiß, denen eigentlich nur eine Löwen- und Bären-Gesundheit Stand hielte. Vielleicht kann ich dies nicht deutlich machen, aber glaubt es mir: ich leide Tag und Nacht daran. Daß ich „gute Miene“ zu machen weiß und von Zeit zu Zeit sogar einen Anfall von Glück und von ausgelassener Munterkeit habe, das wißt Ihr auch: sonst lebte ich lange nicht mehr. Es wird mir schrecklich schwer, das Lama vor ihrer Abreise nicht zu sehen, es geht mir durch und durch. Trotzdem ist es, glaube ich, besser so — und nicht nur meinetwegen. Vielleicht könnte es bei einem nochmaligen Wiedersehn herauskommen, zu sehr herauskommen, wie vereinsamt sich Euer Fritz jetzt fühlt — denn ich bin ohne Ausnahme alle meine Freunde in den letzten Jahren losgeworden — und wie er thatsächlich schon in einem fernen, fremderen, auch unzugänglicheren Lande lebt als alle Paraguays sein könnten. Aber wir sollten uns Alle einander hübsch Muth machen, da wir allesammt nichts Kleines vorhaben. Ich habe diesen Sommer hier in Sils oft mit großer Neigung über das Projekt meines Herrn Schwagers geredet, vor Deutschen und Ausländern; und seit er von jener Agitation zurückgetreten ist, die gleich jeder negativen Bestrebung die Gefahr in sich birgt, einen edelgearteten Charakter am leichtesten zu verderben, bin ich voller Theilnahme und herzlicher Wünsche für seine Unternehmungen. Das Lama wird ihre Sache gut machen, daran ist kein Zweifel (nur bin ich besorgt, daß sie aus Liebe zu ihrem Gatten zu wenig Fleisch ißt — „Eines schickt sich nicht für Alle“, Verzeihung, meine Lieben!) Mit meiner lieben Mutter will ich, wenn sie erst allein ist, dies und jenes Zusammentreffen und Zusammenleben verabreden: inzwischen müssen wir uns Alle tapfer zusammennehmen. Sils bleibt mein Sommer-Aufenthalt: das hat sich entschieden, Dank einigen Veränderungen, die meinen Augen angemessen waren. Jetzt muß ich noch den Winterort feststellen: ein Versuch mit Florenz soll zunächst gemacht werden. Adresse also: Firenze (Italia) poste restante.
In Liebe und mit Thränen
Euer Fritz.
An Stein habe ich geschrieben: damals glaubte ich noch an die Reise nach Naumburg. Inzwischen war ich krank.