1885, Briefe 568–654
615. An Elisabeth Förster in Naumburg
<Sils-Maria, Ende Juli 1885>
Mein liebes Lama,
Dein guter herzlieber Brief kam einen Tag zu spät: so ist mein Dank für Deine Kiste einen Tag zu früh abgelaufen. Die Freude der kleinen Adrienne war unbeschreiblich. Für Cubaba allerschönsten Dank, es erinnerte mich an eine Art Kuchen aus Kastanien, welche man in Genua macht, ist aber feiner im Geschmack. Seit drei Tagen haben wir Luft, Himmel und Wind wie in Nizza des Winters, es ist frisch; alle Welt sagt mir, daß ich viel besser aussehe. Auch denke ich wieder muthiger über die Zukunft: und seltsam, in Betracht zu den ungeheuren Dingen, mit denen sich Dein dummer Bruder beschwert hat, heißt Muth bei mir auch immer soviel als: guter Wille zur Einsamkeit und Verborgenheit, und Ablehnung jedes Arrangements, wozu mein vieles Kranksein mich verführen könnte. Wenn ich in den letzten Jahren hier und da nach „Schülern“ geseufzt habe, so war es immer die Wirkung krankhafter Entmuthigung; an guten Tagen weiß ich ganz deutlich, daß es besser ist, meine Hauptsachen still für mich abzumachen — und daß ich meinen Verkehr mit Menschen rein als Kur und gelegentliche Medizin zu nehmen habe, vor Allem als Erholung. Aber sobald ich wieder zu Kräften komme, weiß ich, warum ich die größte Unabhängigkeit und Einsamkeit zuerst und zuzweit und zudritt nöthig habe. — Da kommt eben ein Brief von Lanzky: der sorgt ernstlich für mein Persönliches und Leibliches und ist andererseits nicht zum „Schüler“ geeignet, das weiß er selber — aber zu einer Art von Oekonom und Wirthschafter um mich herum. Lies genau, meine liebe Schwester, was er sagt. Ich glaubte es dieser Tage selber, daß ich um die riviera nicht herumkomme: die Beschleunigung des „Stoffwechsels“, wie die Physiologen sagen, bedingt durch trockne Luft (wie in Nordamerika und Nizza) ist für mich, da ich das langweiligste Gedärm von der Welt habe (verdorben überdies durch Jahrzehnde medizinischer Vergiftung) eine Sache ersten Rangs. St. Jean ist etwas für alle Jahreszeiten; ich möchte gern „der Einsiedler von St. Jean“ werden. Im Freien leben und arbeiten — das ist meine Aufgabe. Milch, Reis, Fleisch, keine Hôtels. Und Honig: — oh wie gut ist er wieder!
Bitte, laß diesen Brief auch Deinen Gatten lesen! und behaltet mich lieb!
F.