1885, Briefe 568–654
604. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Venedig, Ende Mai 1885>
Meine liebe gute Mutter,
es ist mir nicht viel anders zu Muthe gewesen, diese ganze Zeit über, als Dir; die ganze Sache gieng mir durch und durch.
Und da Dein Sohn eine schlechte Gesundheit hat, so war er folglich immer krank; dieser Frühling ist einer der melancholischsten Frühlinge meines Lebens. Es fehlt mir hier an Abziehung und an theilnehmenden Menschen: an Herrn K<öselitz> nehme ich den wärmsten Antheil, aber zu einem Verkehre mit mir ist er nicht gemacht, noch weniger dazu, etwas für einen Halbblinden Vorsorge zu haben. Für den Tag der Hochzeit hatte ich das Glück, daß eine Baseler Familie, welche mir von Nizza aus bekannt ist, mit mir eine Ausfahrt nach dem Lido machte; die Nöthigung, mit wohlwollenden halbfremden Menschen zu reden, war mir eine wahre Erleichterung.
Vielleicht ist Alles so, wie es gekommen ist, in Ordnung; auch haben wir Beide (ich meine Dr. Förster und mich) uns bisher schicklich genug und mit sehr viel gutem Willen benommen. Die Sache ist aber gefährlich, und wir wollen etwas auf der Hut sein; für meinen persönlichen Geschmack ist ein solcher Agitator zum näheren Verkehre etwas Unmögliches. Er selber hat wohl das gleiche Gefühl: er schrieb zuletzt an mich „Ob eine persönliche Begegnung vor unserer Abreise uns dauerndes Behagen zurücklassen würde, wage ich zu bezweifeln“. Du verstehst.
Ich verstehe die Gestaltung seiner Zukunft nicht, und ich für meine Person bin sogar zu aristokratisch gesinnt, um mich dermaaßen mit 20 Bauernfamilien rechtlich und gesellschaftlich auf gleichen Fuß zu stellen: wie er es im Programm hat. In solchen Verhältnissen bekommt der, welcher den stärksten Willen hat und am klügsten ist, das Übergewicht; gerade zu diesen beiden Qualitäten sind deutsche Gelehrte schlecht präparirt. Pflanzen-Nahrung wie Dr. F<örster> sie will, macht solche Naturen nur noch reizbarer und verstimmbarer. Man sehe sich doch die „fleischfressenden“ Engländer an: das war bisher die Rasse, welche am besten Colonien gründete. Phlegma und Rostbeef — das war bisher das Recept für solche „Unternehmen“.
Was mit mir für diesen Sommer wird, weiß ich immer noch nicht. Wahrscheinlich das alte Sils-Maria: ob ich gleich von allen meinen dortigen Aufenthalten eine schauerliche Erinnerung habe. Ich war immer krank, hatte keine Nahrung, die gerade mir Noth thut, langweilte mich unerhört, aus Mangel an Augenlicht und Menschen — und kam immer in einer Art Verzweiflung in den September hinein. Dies Mal habe ich eine alte Dame in Zürich eingeladen, dorthin zu kommen; noch habe ich keine Antwort. Die jungen Damen, alles wenigstens, was um Malvida von Meysenbug herum wächst, ist nicht nach meinem Geschmack; und ich habe die Lust verloren, bei diesem halbverrückten Volke meine Unterhaltung zu suchen. Ich würde sogar den Umgang mit deutschen Professoren vorziehn: die haben wenigstens alle etwas Rechtschaffnes gelernt, und folglich kann man was bei ihnen lernen.
Mit den Augen steht es täglich schlimmer; und, ohne daß mir Jemand zu Hülfe kommt, bin ich am Ende des Jahrs wahrscheinlich blind. So will ich denn schließen, ich sollte gar nicht lesen und schreiben: aber man hält’s nicht aus, wenn man ganz allein ist.
Mit alter Liebe
Dein Sohn.
NB. Es ärgert mich immer, daß meine dumme Gesundheit und Dein Naumburg und Haus sich nicht mit einander vertragen wollen. Es wäre mir keine kleine Wohlthat, wenn Du bei mir sein könntest.
Venezia (Italia) (poste restante)