1885, Briefe 568–654
649. An Franz Overbeck in Basel
<Anfang Dezember 1885.> Nice, nie St. François de Paule 26 (2me étage à gauche)
Lieber Freund,
Dein Brief macht mir eine herzliche Freude: Du siehst, ich „antworte“ sofort darauf, obwohl im Grunde nach gar nichts „gefragt“ ist. Es ist ein Glück, daß es nicht viel Neues zu melden giebt, das Neue hat gewöhnlich seinen Haken. Die Gesundheit ist besser als unter deutschem Himmel, der Kopf freier, die beständige Verstimmung, an der ich in Naumburg und Leipzig litt (— ich gab mir die beste Mühe, sie zu verbergen —) hier wenigstens nicht mehr „beständig“. Ein Zeichen davon ist es, daß ich wieder im Experimentiren mit Wohnungen usw. bin; in der braven Schweizer Pension hielt ich mich nur 3 Tage auf, doch komme ich oft genug auf sie zurück, — vielleicht nachdem ich, wie nun schon 2 Winter, durch die erwähnten Experimente mich zur Verzweiflung gebracht habe. Es muß sich etwas Unabhängiges und mir Angemessenes schließlich finden lassen: aber ich zweifle immer mehr, daß ich’s finde. Weshalb ich Menschen brauche, die für mich sorgen. Das Unpraktische meiner Natur, die halbe Blindheit, andrerseits das Ängstliche, Hülflose, Entmuthigte, was in der Consequenz meiner Gesundheit liegt, schraubt mich oft in Lagen fest, die mich fast umbringen. —
Fast sieben Jahre Einsamkeit und, zum allergrößten Theil, ein wahres Hundeleben, weil es an allem mir Notwendigen fehlte! Ich danke dem Himmel, daß es Niemand so recht aus der Nähe mit angesehn hat (Lanzky abgerechnet, der immer noch ganz außer sich darüber ist.) Und zu dem Allen diese Überzahl von schmerzhaften, mindestens verhängten Tagen, gar nicht von der verzweifelten Langeweile zu reden, in die Jeder geräth, welcher der „Distraction der Augen“ enträth! Ich meine, man hätte mir einen ziemlichen Grad von Pessimismus und Resignationismus nachsehn müssen; aber ich selber habe mir ihn nicht „nachgesehn,“ vielmehr mich aus Leibeskräften dagegen gewehrt. (Das stärkste Stück darin, das ich geleistet habe, war, unter was für Verhältnissen ich meinen Zarathustra begann und durchsetzte: — ich will keinen Tag von den 3 letzten Jahren zum zweiten Male durchleben, Spannung und Gegensätze waren zu groß!)
Dies unter uns, mein lieber alter Freund! Es gäbe so Vieles „unter uns“ zu sagen! Brieflich, ich weiß nicht, wie groß mein Mißtrauen gegen Briefe geworden ist. — Es fällt mir ein, daß ich über Deine bei Schm<eitzner> erschienenen Schriften meine Ansicht gegen Credner gründlich ausgelassen habe; es lag mir daran, für den Fall, daß der Schmeitzner’sche Verlag versteigert wurde, daß der sehr achtbare Credner sich dabei auch Deiner Schriften bemächtigte. Leider, so muß ich sagen, war diese Versteigerung nicht durchzusetzen; und Deine wie meine Schriften liegen vollständig vergraben und unausgrabbar in diesem Antisemiten-Loch. (Das ist meine Einsicht in die Sache: Schmeitzner selber denkt nicht anders darüber.) Meine „Litteratur“ existirt nicht mehr —, mit diesem Urtheile habe ich Abschied von Deutschland genommen, gar nicht desperat etwa! — vielmehr empfand ich, wie viel Mohn in dieser oblivio liegt und welchen Werth es hat, daß ich meinen sehr umfänglichen und nicht ungefährlichen Gedanken ohne die Neugierde eines „Publikums“ nachlaufen kann. Niemand in Deutschland weiß (auch wo man mich gut zu kennen glaubt) was ich von mir will, oder daß ich etwas will; und daß ich davon, unter den schwierigsten Umständen, sogar ein gut Stück schon erreicht habe. — Mit Credner war ich über eine zweite Auflage von Menschl., Allzumenschliches einig geworden, für welche ich Alles (bis auf die Abschrift) bereit gemacht hatte — ein ganzer Sommer Arbeit steckt darin! Schmeitzner schob einen Riegel vor, indem er für die Vernichtung der noch übrigen Exemplare der ersten Auflage die Summe von 2500 Mark verlangte. Damit, wie ich begriffen habe, ist für immer die Möglichkeit zweiter Auflagen ad acta gelegt. Schm<eitzner> selbst hält meine Bücher jetzt für Blei (sie werden überall unter die „antisemitische Litteratur“ gerechnet, wie mir von den Leipziger Buchhändlern bestätigt wird —, und nun macht mir gar der gute Widemann den Streich, mich in Einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dühring zusammen zu loben!) Vom Zarathustra sind nicht hundert Exemplare verkauft (und diese fast nur an Wagnerianern und Antisemiten!!) Kurz, es giebt Gründe zu lachen und den Rücken zu kehren. Das Beste ist, daß sonst alles hübsch wieder in Ordnung ist, daß Schm<eitzner> gezahlt hat (nicht ganz so viel als ich Dir schrieb, aber doch mehr als 5000 Mark), daß meine Angehörigen mich mehr lieben als je, daß man mit meinem Aussehn zufrieden ist, daß meine Schwester nunmehr alle Hände voll zu thun hat, in einer Richtung, wo für mich keine malheurs herauskommen, daß Nizza und Sils-Maria entdeckt sind, und daß augenblicklich eine Art halkyonischer Zustand erreicht ist, der dem Zustandekommen einer Philosophie nicht ungünstig sein soll. Und Du, mein lieber Freund, behältst lieb Deinen
N.
Bitte, wenn das Geld flügge wird, sende es, wie sonst (womöglich französisches Papier) einfach récommandé! Ich bin neugierig, wie es mit der Baseler Pension sich gestaltet. — Rée’s Buch, prachtvoll klar und durchsichtig, giebt mir nichts Neues, wo ich es erwartete; — und für eine historische Beweisführung des Alten fehlt ihm gerade Talent und Umfang des Wissens. Vom „Kampf um Gott“ hattest Du noch nicht geschrieben — abgesehn ein Wort von dem Eindrucke, den Deine liebe Frau habe („sie habe Respekt“). Ich bin sehr gut über Eure Universitäts-Festlichkeiten unterrichtet, man versorgt mich mit Basler Nachrichten.