1885, Briefe 568–654
580. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, Sonnabend. <14. März 1885>
Mein lieber Freund,
als ich Ihre Mittheilung bekam, hatte ich eine Stunde lang großes Vergnügen, um Ihretwillen und um meinetwillen; denn ich weiß Sie lieber in V<enedig> als in Z<ürich>, und mich gleichfalls. Hinter drein aber bin ich Ihnen beinahe böse geworden: es schien mir, Sie hätten in Anbetracht alles dessen, worüber wir im vorigen Frühjahr übereinkamen, (nämlich, daß es für das fernere Schaffen vorbei sei mit Venedig, und etwas Neues, klimatisch-Grundverschiedenes versucht werden müsse) sich entschließen sollen, nach Genua zu gehn, oder vielmehr mir ein paar Worte früher schreiben. Ich wäre bereit gewesen, Sie in Genua, Santa Marguerita, Porto fino einen Monat lang und mehr herumzuführen und mit Ihnen zu erwägen, ob und wie da für Sie zu leben wäre. — Aber nun ist das zu spät, und ich bin Ihnen auch schon lange nicht mehr böse. Ich sage sogar, daß Ihr Venedig auch mir die liebste Verführung ist, und daß es nicht lange mehr dauern wird, so bin ich verführt. Meine Gesundheit ist schlecht, der Zustand der Luft und des Himmels anders als andre Winter, und viele seltsame Melancholien sind mir über das Herz gelaufen, — vom eigentlichen Kranksein nicht zu reden.
Mit den Augen steht es schlimm und schlimmer. — Es kommt vielleicht dieser Tage ein Druckbogen bei Ihnen an: seien Sie nicht ungeduldig, lieber Freund und helfen Sie mir auch dies Mal noch. Es ist der vierte und letzte Theil von „Also s<prach> Z<arathustra>“; der Titel, welchen ich Ihnen das letzte Mal brieflich meldete, war eine Verlegenheits-Auskunft in Hinsicht auf einen neuen Verleger. Damals nämlich suchte ich einen Verleger, und billigerweise hätte ich keinen „vierten Theil“ anbieten können. Für das, was ich noch zu sagen habe comme poète-prophète, brauche ich eine andre Form als die bisherige; und es war eine harte Sache, mich um eines Verlegers willen zu einem solchen Titel zu entschließen. Genug, ich fand keinen Verleger und drucke nun mein Finale auf eigne Kosten. Dafür nur in wenig Exemplaren und nicht für die „Öffentlichkeit“. Bitte, schreiben und sprechen auch Sie nicht davon, daß es einen 4ten <Zarathustra> giebt.
Ihr Orpheus hat mich sehnsüchtig-schwermüthig gemacht. Ach, Freund, daß Sie mir schreiben könnten, Ihre Dichtung sei gedichtet! Es ist eine herrliche Erfindung.
Denken Sie im Spazierengehen daran, mir ein Zimmer, das für mich paßt, zu schaffen — hoch, still, voller Möbel, alterthümlich, und bei reinlichen rechtschaffnen Leuten. Ihr Freund
Nietzsche.