1885, Briefe 568–654
608. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria Oberengadin 2 Juli 1885.
Lieber Freund,
inzwischen habe ich über Sie durch Frau Röder Dinge gehört, zu denen ich gerne meinen Glückwunsch schicken möchte. Der Gedanke an Wien gilt mir in Bezug auf Ihre Musik, wie Sie es wissen, als der eigentliche „Vernunftgrund“ — in hoc signo vinces, das ist auch heute noch mein Glaube. Wie dumm, daß ich unnützer Mensch nicht einmal dazu dienen kann, ein wenig die Brücke zwischen Venedig und Wien zu machen!
Theilen Sie mir etwas über Ihre neue Musik mit, auch, wie sich der Schluß der Sinfonia ungherese gestaltet hat. Und um welche Zeit des Jahres Sie gedenken, Ihr Schiff auslaufen zu lassen. Alles geht mich so nahe an, — ich wünschte, ich hätte ein Paar Menschen mehr, deren Thun und Lassen mich so nahe angienge wie Ihr Thun und Lassen. Das Letztere sage ich ironice: der Himmel segne Sie dafür, daß Sie hübsch in Ihrem Geleise bleiben und nicht zu viel nach fremdem Rathe hinhorchen.
Ihre treffliche Frau Röder bemüht sich erstaunlich, mir über die Schwierigkeiten meines allzu vereinsamten Lebens hinwegzuhelfen. Doch glaube ich, daß sie zu sehr mit dem „Blute von 48“ getauft ist, als daß sie, in Bezug auf mich, mehr thun könnte als die „allerbeste Miene machen.“ In der Hauptsache mag es ein „böses Spiel“ sein; nun, in der nächsten Woche ist sie davon erlöst. Sie sind bei weitem der liebste Gegenstand unsrer Unterhaltung; und, was Sie auch denken mögen, Ihr Züricher Winter hat Ihnen eine sehr zugethane und rücksichtenreiche Freundin geschenkt.
Meine Gesellschaft vom vorigen Sommer ist auch wieder da, und mir zugethaner als je, die beiden Engländerinnen, welche mir den Genuß distinguirter Lebensformen geben, und die alte russische Hofdame (und Schülerin Chopin’s): noch im letzten Monat hat sie eine Fuge componirt, die keinen „Spaaß versteht“.
— Die letzte Nacht an der Rialtobrücke brachte mir noch eine Musik, die mich zu Thränen bewegte, ein unglaubliches altmodisches Adagio, wie als ob es noch gar kein Adagio vorher gegeben habe.
Mit tausend guten Wünschen
Ihr Freund N.
Ich erwarte auch, aus Paris, das Frl. von Schirnhofer.