1885, Briefe 568–654
646. An Elisabeth Förster in Naumburg
<Nizza, 23. November 1885.> Montag.
Inzwischen ist der dicke Brief, mein liebes Lama, von Vallomarosa nach Nizza gewandelt; insgleichen der Brief unsrer guten Mutter. Habt den allerschönsten Dank! Heute ein paar geschäftliche Notizen (ich bin immer noch von einer gründlichen Erkältung her indisposé und embêté)
Die zwei gewünschten Scheine für Herrn Kürbitz folgen anbei. Erstaunlich, daß sie aus all dem Krimskrams von Papieren zu Tage kamen!
Die Löschungsurkunde, welche, wie es scheint, Herr Kaufmann mitgeschickt hatte, (auf seinem Briefe steht unten „anbei Löschungsurkunde“) habt Ihr wohl zurückbehalten? Meine genaue Adresse hierselbst ist: rue St. François de Paule 26, 2 étage, á gauche
Doch werde ich’s schwerlich bis weiter als zur Mitte Dezember darin aushalten, es fehlt der Ofen, und Vieles ist da, was fehlen dürfte. Ich muß ernstlich darauf bedacht sein, meinem Leben hier eine festere Form zu geben; so lange diese nicht hergestellt ist, bleibt mir als Zuflucht immer nur die schweizerische Pension de Genéve, welche in 2 Hinsichten sehr lobenswerth ist: es ist still daselbst, ebenfalls reinlich — und dies Mal fehlen die degoutanten Menschen. Die Küche ist, in Hinsicht auf Simplizität der Bereitung und Qualität des Fleisches, vielleicht das mir Angemessenste: nur muß ich mit etwas Grahambrod nachhelfen. —
Ich gestehe, daß ich eine überraschend wohlthätige Wirkung gespürt habe, seit ich jeden Abend mit einem Glase Bier beschließe. Gerade in solchen stimulanten Klimaten scheint das Bier wie ein Medikament zu dienen. —
Die zwei letzten Monate waren ein tolles Wagniß für mich, ich kann es gar nicht ausdrücken, was es heißt endlich den Kopf wieder frei haben! Zu alledem haben wir hier ein für Nizza abscheuliches und unziemliches Wetter; und trotzdem empfinde ich den Unterschied, wie als ob ich aus einem Gefängnisse entschlüpft wäre. —
Es war sehr nützlich, obschon äußerst kostspielig, ein Paar Möglichkeiten, die mich hier und da noch verlockten, nämlich München, andrerseits Florenz, endlich Genua, kurz hintereinander erprobt zu haben: alles nichts für mich! Nichts ersetzt mir die Luft von Nizza und die großartige Freiheit dieser cosmopolis, Freiheit in landschaftlicher und menschlicher Beziehung. Außerdem ist es eine Stadt, wo Einer billig leben kann, sogar lächerlich billig; und wenn ich’s noch nicht dazu gebracht habe, so liegt es an meinen Augen und andern Unvollkommenheiten. Das Volk lebt vegetarisch, abgesehn von Fischen.
Mein liebes Lama, hilf mir und schlage bei Wiel nach: der erwähnt ein kleines „genial construirtes“ Maschinchen, womit man Eier zu Schaum schlägt (unter dem Capitel „Eierspeisen“ oder sonstwo) Für den Fall, daß Ciaire Heinze im Frühjahr hierher kommt, hat sie vielleicht die freundschaftliche Gefälligkeit, mir dies Maschinchen mitzubringen. Nota bene! Herr Köchlin hat mir Viel von einer schweizerischen Colonisation, mit Baseler Geld und Frömmigkeit unternommen, auch in den Laplatastaaten (von Rosario aus) erzählt, welche nicht geglückt ist. Er wundert sich, wie man sich nicht mit den jetzigen deutschen Verhältnissen vertragen könne, welche so sehr viel günstiger und solider seien als die in Frankreich oder Italien oder Schweiz oder überall. Du siehst, man beneidet unsre Zustände im Auslande.
Ich lese in Försters Buche und meine, daß einem braven Ackerbauer und Viehzüchter dabei das Herz wackeln muß. Für eine andre Art Menschen wird es weniger verführerisch sein. Die Abwesenheit großer Bibliotheken ist vielleicht nicht genügend ins Licht gestellt. Verzeihung, mein altes Lama, wenn das kränkliche Culturthier, Dein Bruder, sich gar noch Scherze erlaubt.
Lebt wohl, meine Lieben, und muthig und vergnügt, auch mit guten Erinnerungen an
Euren Fritz.