1885, Briefe 568–654
647. An Reinhart und Irene von Seydlitz in München
<Nizza, 24. November 1885>
Meine lieben Freunde,
nach einem kleinen Umweg über Florenz — es geht in meinem Leben nichts ohne Seitensprünge ab — bin ich endlich wieder in meiner Residenz Nizza angelangt und ungefähr, sehr ungefähr „ausgepackt“: — zwischen Nizza und meiner Engadiner Einsiedelei von Sils-Maria wird sich nunmehr der Rest meines Lebens abspielen, die allerliebsten Intermezzi von Venediger Aufenthalten und Gondelfahrten zu Dreien hübsch eingerechnet! Wie schön verpflegt, anglo-amerikanisch, wie man’s hier heißen würde, bin ich von Eurem München abgereist! und wirklich habe ich mit dem herzlichsten Angedenken jeden Schluck getrunken und jeden Bissen gekaut (— man kaut, um gut zu kauen, an einem Bissen 30 bis 70 Mal: das habe ich vom Philister Gladstone gelernt, der seine Kinder bei Tische zählen heißt —).
Hier wohne ich „Square des Phocéens“, am Meere: die ungeheuerliche Art Kosmopolitismus, welche in dieser Wortverbindung steckt, macht mir Vergnügen. In der That haben einst Griechen hier gewohnt.
In Florenz überraschte ich den dortigen Astronomen auf seiner Sternwarte, welche den schönsten Gesammt-Überblick über Ort, Thal und Fluß giebt. Sollte man’s glauben, daß er neben seinem Arbeitstische die sehr zerlesenen Schriften Eures Freundes hatte und daß er, ein schneeweißer alter Mann, mit Begeisterung Stellen aus „Menschliches, Allzumenschliches“ recitirte? — Das Bild dieses vollkommen und hochgearteten Eremitenthums war das kostbarste Geschenk, das ich von Florenz mitnahm: — zugleich freilich auch der schmerzhafteste Biß, nämlich ein Gewissensbiß. Denn ersichtlich hatte dieser einsame Forscher es in der Weisheit des Lebens (und nicht nur in der Entdeckung von Kometen und Orion-Nebeln) weiter gebracht, als Euer Freund.
Auch war er gesund: und wenn ein Philosoph krank ist, so ist er beinahe schon ein argumentum gegen seine Philosophie. Inzwischen dürfte ich geltend machen, daß ich „reißend schnell“ gesund und immer gesunder werde, seit ich meine Philosophie habe und nicht mehr „falschen Götzen“ diene.
Es giebt ein artiges provençalisches Wort, welches ich immer besser verstehn lerne (— und das ist viel bei einem Deutschen) gai saber.
Behaltet lieb
Euren Freund
Nietzsche.
Adresse: Nice (France) poste restante.
Le japonisme meines Freundes Seydlitz und Gedanken über die ästhetische Tartüfferie des jetzigen Europa’s haben mich die ganze Reise über beschäftigt.