1885, Briefe 568–654
632. An Franz Overbeck in Basel
Leipzig <6. Oktober 1885> Auenstraße 48 II rechts.
Lieber Freund
ein Gruß aus Leipzig! das wird Dir unvermuthet kommen. Aber es zog mich diesen Herbst unwiderstehlich noch einmal nach Deutschland (wo ich weder für Leib noch für die liebe „Seele“ fürderhin etwas zu suchen habe) um meine Mutter und Schwester noch einmal beisammen zu finden — wer weiß, ob nicht zum allerletzten Male! Denn im Januar oder Februar reisen die neuen „Colonisten“ ab, glücklicherweise nicht allein, sondern mit lauter achtbaren und wohlansehnlichen Personen. Dr. Förster habe ich noch nicht zu sehn bekommen, denn er weilt in Westphalen, redet und reitet abwechselnd auf seinen zwei Pferden (Paraguay und Antisemitismus) und wird im Monat November dasselbe noch für Sachsen thun. Unsereins hat gar keine Vorstellung von der Masse Arbeit und Aufregung, welche mit solchen Aufgaben verknüpft ist. Was mir wohlthut, ist die Einmüthigkeit im Lobe seines Charakters (denn es lag mir daran, unter der Hand, aus dem Mund von Freund und Feind mir den ungefähren Ruf meines so unerwarteten „Verwandten“ festzustellen) Es giebt ja Gründe genug, im Allgemeinen den Herren Antisemiten nicht über den Weg zu trauen. Übrigens ist ihre Sache viel populärer als man in der Ferne ahnt, namentlich scheint mir der ganze preußische Adel für dieselbe zu schwärmen. — Der Gedanke einer Colonisation in Paraguay ist von mir sehr geprüft worden, nicht ohne den Hintergedanken, ob nicht daselbst auch für mich sich einmal ein Asylon fände. In Bezug auf diese Aussicht bin ich zu einem unbedingten „Nein“ gekommen; meine klimatischen Bedürfnisse widersprechen. Sonst aber ist an der ganzen Sache viel Vernunft, P<araguay> ist ein prachtvolles Stück Erde für deutsche Landbebauer — und unter nicht gerade phantastischen Erwartungen darf ein Westphale oder Pommer wohl gemuth dahin absegeln. Ob gerade meine Schwester und mein Herr Schwager dort am Platze sind, ist eine andre Frage; und ich gestehe mit meiner Mutter zusammen oft sogar schrecklich besorgt zu sein. — Die nunmehrige Einsamkeit meiner Mutter ist eine andre Sorge für mich. Vielleicht kommt es dazu, daß sie wenigstens einen Theil des Jahres mit mir zusammen lebt, etwa in Venedig. Mir selber geschieht damit eine große Wohlthat, denn für meine leibliche Verfassung und halbe Blindheit ist eine fürsorgliche Pflegerin (Du kannst Dir denken, daß meine Mutter mich zu verheirathen wünscht (mit der Tochter meines ehemaligen militärischen Chefs, des Generals von Jagemann.) Aber sie wünscht es umsonst) immer nothwendiger geworden, von meiner seelischen Vereinsamung zu schweigen, aus welcher auch der beste Wille mich jetzt nicht herauszuziehn vermöchte. Ich nehme sie als Loos und will es schon noch lernen, dies Loos nicht als Unglück zu tragen. Eigentlich fehlt mir jetzt ein Mensch, der die schickliche Distanz um mich zieht, eine Art Ceremonienmeister, der mir die überflüssigen Malheurs erspart, welchen ich die letzten Jahre und auch jetzt wieder ausgesetzt war. Es scheint, daß jeden Monat wenigstens eine große bêtise gegen mich begangen werden muß, besonders von den Herrn Weibern, die in unsrer Zeit erschrecklich an Grazie des Herzens und an Bescheidenheit abnehmen. Nun, der Himmel gebe, daß allmählich ich den Menschen aus dem Gedächtniß verschwinde, und meine Einsamkeit zu keinem unverschämten Geschwätze mehr Anlaß giebt. Bei Sils-Maria wird es wohl bleiben: man ist mit der Anlage schattiger Wege und einer Ummöblirung meines Zimmers den Forderungen meiner Augen schönstens entgegengekommen. Für den Winter steht noch nichts fest. Vielleicht einmal Venedig, welches nach der Abreise Köselitzens (nach Wien —) für mich Einsiedler möglich wird. Schmeitzner’s Sache steht im Vordergrund: er hat in 2 Jahren 4 Mal sein Wort nicht gehalten — richtiger, ich Narr habe vier Mal ihm volles Vertrauen geschenkt, und dies nach so vielen schlechten Erfahrungen!! — Wie geht es Dir, lieber alter Freund?
N.
Mitte Monats werde ich wieder in Naumburg sein. Meine Geldwünsche kann ich heute noch nicht präcisiren.