1885, Briefe 568–654
614. An Bernhard und Elisabeth Förster in Naumburg
<Sils-Maria, 29. Juli 1885>
Meine Lieben,
was für eine Freude habt Ihr mir doch mit der kleinen Kiste gemacht! Die Wahrheit zu sagen: ich war eine Stunde hinterdrein krank, so daß ich den Vers machen mußte
„nichts ist mir schwerer zu ertragen,
„als etwas Gutes zwischen lauter schlechten Tagen.“
Ich bin so oft auf der Post gewesen, immer mit der stillen Hoffnung, daß dort Etwas für mich steht, mit Allerlei darin, und Einiges imprévu, wie ich’s liebe, sogar vielleicht etwas Leckermäuliges, das in die erschreckliche Monotonie von Reis, Rindfleisch, Thee und Milch hineinfällt, und namentlich ein artiges Ding für la petite Adrienne, die hübsch wird und nunmehr in die Schule geht (ich glaube, daß ich zum letzten Male im Hause dieser trefflichen Leute bin) Und siehe, Alles hat sich schönstens erfüllt! Habt tausend Dank! Was das Buch des Herrn W<idemann> betrifft, so weiß ich eigentlich nicht, ob es mir oder ob es dem Lama zugesandt ist; ich habe schon durch Herrn Köselitz meinen Glückwunsch zu seinem Fertig-werden ausdrücken lassen.
Widemann wendet sich fundamental wider Kant und Schopenhauer: ich sehe dem mit Erstaunen zu, wie schnell jetzt die philosophischen Systeme wechseln und wechseln. Es giebt, unter wirklichen Denkern, heute keine Anhänger Schopenhauers mehr, und nur ganz wenige Kantianer. Widemann’s Standpunkt, welcher im Grunde der Eugen Dühring’s ist (obwohl er seine Unabhängigkeit gelten macht), ist für mich bereits ad acta gelegt: und fünf andere hinzu, deren Heraufkommen ich in den nächsten 20 Jahren erwarte. Ich sehe mit Trauer, daß sich noch Nichts, noch Niemand für mich ankündigt, der mir einen Theil meiner Arbeit abnähme. Scheinbar steht es hier, bei W<idemann> gerade anders: denn sein Buch endet vollkommen mit Zarathustra-Gedanken, und auf der letzten Seite erscheinen Dühring und ich in ganz großer Gala und Gloria. Es ist Schade, daß Ihr nicht die Seiten aufgeschnitten habt, wo von meinem „tiefsinnigen Evangelium“ und „meiner klassischen Formulirung des höchsten Ideals menschlichen Strebens“ geredet wird. —
Hopsa! reden wir von etwas Vernünftigerem! Das Lama hat neulich einen so rührenden Brief an mich geschrieben: ich bitte Euch, sie dafür in meinem Namen schönstens zu streicheln. Zuletzt ist der Gedanke eines Zusammentreffens in Baden-Baden nicht übel, nur kommt dabei mein Wunsch, unsre liebe Mutter wieder zu sehn, ins Gedränge. —
Was macht die Schmeitznersche Zahlung? Daran hängt eigentlich meine Dispositions-Fähigkeit für Herbst und Winter.
Auch thäte ich gerne etwas für die Aufführung von K<öselitzen>s Oper, mündlich und persönlich: denn wenn ich nichts thue, thut Niemand was. Er schrieb verzweifelt, seit 3 Jahren hat er nichts als Zurückweisungen und Demüthigungen erfahren.
Ich bin seit 3 Wochen ungefähr wieder allein. Und bin froh darüber. Kein neuer Mensch schlägt bei mir mehr Wurzel, und die „alten Menschen“ sind alle für mich abgedorrt. Schlimm! Ich bin auch der Meinung, daß nichts über gute Familien-Verhältnisse geht.
Alle 3 Tage krank. Mit den Augen steht’s ganz böse. Aber was hält unser-Einer nicht aus?
Es grüßt Euch von Herzen
Euer Fr.