1885, Briefe 568–654
588. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 30. März 1885>
Lieber Freund,
seltsam! Ich erinnere mich gar nicht mehr, daß ich jemals eine Reise nach einem Orte hin mit Vergnügen unternommen hätte. Aber diesmal: — zu denken, daß ich bald in Venedig und bei Ihnen sein werde, erquickt mich, entzückt mich, es ist wie die Hoffnung auf Genesung bei einem lange und geduldig Kranken. Dabei habe ich entdeckt, daß Venedig mir bisher allein gefallen und wohlgethan hat: oder vielmehr, ich sollte ganz andre (und bescheidenere) Ausdrücke gebrauchen. Als Landschaft ist mir Sils-Maria verwandt (leider nicht als Ort) — wüßte ich nur, wie ich dort mir eine würdige Einsamkeit und Einsiedlerschaft erhalten könnte! Aber — es kommt in Mode!
Sie selber aber, mein lieber Freund und maestro, gehören einstweilen für mich wesentlich zu Venedig, und im Grunde höre ich nichts lieber, als daß Sie dieser Stadt noch nicht müde sind. Wie Viel habe ich neuerdings an Sie und über Sie gedacht!
Sogar, als ich in den mémoires des alten De Brosses (1739—40) über Venedig las und über den damals berühmtesten maëstro, nämlich Hasse (il detto „Sassone“). Sein Sie nicht böse, es liegt mir ferne, unehrerbietige Vergleichungen zu machen.
An Malvida schrieb ich dieser Tage, Herr Peter Gast werde für seinen Theil dafür sorgen, daß die Herrn Schauspieler und Schein-Genies der Musik nicht mehr lange den Geschmack verderben. „Nicht mehr lange“ — das ist vielleicht eine große Übereilung. In einem demokratischen Zeitalter ist das Schöne jeder Art Eigenthum Weniger: pulchrum paucorum est hominum. Ich freue mich, in Ihrem Falle ein „Weniger“ zu sein. Die Menschen, die tief und lustig genug für mich sind, mit âmes mélancholiques et folles, gleich meinen verstorbenen Freunden Stendhal und Abbé Galiani, haben es auf Erden nicht aushalten können ohne die Liebe zu einem Musiker des Glücks (Galiani nicht ohne Piccini, und Stendhal nicht ohne Cimarosa und Mozart)
Ah, wenn Sie wüßten, wie allein ich jetzt auf der Welt bin! Und wie viel Komödie noth thut, um nicht, hier und da, aus Überdruß, irgend Jemandem in’s Gesicht zu spucken! Glücklicher Weise ist etwas von den höflichen Manieren meines Sohnes Zarathustra auch in seinem verrückten Vater vorhanden.
Wenn ich aber zu Ihnen und nach Venedig komme, hat es, für eine Zeit lang, einmal mit der „Höflichkeit“ und der „Komödie“ und dem „Überdruß“ und der ganzen verfluchten Nizza-haftigkeit ein Ende — nicht wahr, mein werther Freund?
Nicht zu vergessen: es werden wieder „bajicoli“ gegessen!
Von Herzen
Ihr N.
NB. Ich will hier die Beendigung des Drucks abwarten.