1885, Briefe 568–654
612. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 13. Juli 1885>
Mein lieber Freund,
das Geld ist in meinen Händen: was für Umstände habe ich Dir gemacht! — Ich erhebe mich eben von einem ganz schlimmen Anfalle, der fast die vorige ganze Woche eingenommen hat. — Solche Dinge von sich fordern, wie ich es thue — und eine solche Gesundheit! Und zuletzt habe ich in den letzten 10 Jahren doch Einiges durchgesetzt.
— Ein Brief von Köselitz, den ich Dir durchaus mittheilen muß, weil ich Deinen Rath brauche, wirft mich ganz um. Daß man gar nichts machen kann! Oder was könnte ich noch machen? Ich weiß zu gut, daß auf persönlichem Wege Alles zu erreichen ist, daß aber, ohne „Connexion“ und thätige Freunde, der beste Künstler verlornes Spiel spielt: gerade das Seltene und Außerordentliche seines Werks steht ihm im Wege! —
Seit 4 Jahren hat K<öselitz> von außen her nichts als Zurückweisungen und Demüthigungen erfahren: ausgenommen die kleine Züricher Episode. (Seltsam, daß dieselbe Zeitung des Dr. Curti, welche sich ehemals meiner politischen Ansichten anzunehmen verstanden hat, über die Löwen-Ouvertüre tiefe feine und grundsätzliche Sachen geäußert hat, welche wie Prophezeiungen klangen: und Niemand weiß, wer der Verfasser ist!)
Zuletzt thut K<öselitz> das, was mir im Frühjahr das Rathsamste schien: er wendet sich an Ries. Aber es scheint mir, er thut es auf eine Weise, um lauter negative Antworten sich zu erzwingen! — —
Meine „Gesellschafterin“ ist abgereist, seit einer Woche. Ich habe ihr etwas diktirt, was ungefähr eine fünfte Unzeitgemässe Betrachtung zu nennen wäre. Doch war es mehr, um mir etwas Luft zu machen.
Wenn Du mich inmitten meiner Bücher hocken sähest! Und was für Bücher! Eigentlich habe ich erst in den letzten 10 Jahren mir Kenntnisse verschafft; von der Philologie her lernte ich im Grunde nur Methoden (denn den furchtbaren antiquarischen Krimskrams mußte ich wieder wegschaffen, gleichsam „ausmisten“). Nun aber sagen die Augen wiederum auf das Bestimmteste, daß das Kenntnisse-sammeln, soweit es von Büchern abhängt, seine Zeit gehabt hat. Das Durchdenken der principiellen Probleme, das unwillkürlich den Inhalt meiner Engadiner Hochgebirgs-Sommer ausmacht, bringt mich immer wieder, trotz der verwegensten Angriffe von Seiten meines innewendigen „Sceptikers“ auf dieselben Entscheidungen: sie stehen schon, so verhüllt und verdunkelt als möglich in meiner „Geburt der Tragödie“, und alles, was ich inzwischen hinzugelernt habe, ist hineingewachsen und ein Theil davon geworden.
Übrigens ist es mein letzter Sommer in Sils. Die Augen commandiren auch hierin, ich halte es in der Helle nicht mehr aus. In allen sonstigen Beziehungen lebe ich hier oben wie ein Ascet, der alles um sich herum gerade so hat, wie es ihm am unangenehmsten ist: die Natur abgerechnet und die zuträgliche trockne Luft.
Dein Freund und Einsiedler
N.
— Wo werdet Ihr im Sommer sein, bevor Du nach Dresden gehst?