1885, Briefe 568–654
627. An Emily Fynn in Blankenberghe
Sils-Maria, 6 Sept. 1885.
Hochverehrte Frau,
es hätte Gründe gegeben, Ihnen sogleich zu schreiben, aber es gab bessere Gründe, etwas zu warten. Man weiß es zehn Tage hinterdrein besser, von wem man Abschied genommen hat als am Tage darauf.
Was das schöne Räthsel betrifft: so zweifle ich nicht, daß „böse Geister“ auch sehr böse, sehr ironische Lösungen dieses Räthsels bereit halten würden, — ohne sie natürlich auszusprechen: es liegt ja in ihrem Plane, daß das Leben seinen räthselhaften Charakter nicht verliere — Verzeihung!
— Was aber „die Blumen“ betrifft, so kann ich nicht verhehlen, daß ich einstweilen vor den gemalten Blumen, wie ich sie diesen Sommer gesehn habe eine größere Hochachtung besitze als vor den natürlichen: — Sie sehen, wie weit ein Philosoph Artist sein kann! Bisher glaubte ich, die Blumen zeigten das Streben der Natur in’s Kleine und Hübsche: jetzt beginne ich zu ahnen, daß es auch ein Streben ins Große und Vornehme sein könne.
Es ist wahrscheinlich, daß ich in einigen Tagen Portofino wiedersehn werde (ich reise nicht nach dem Norden —) Darf ich die Kühnheit haben zu hoffen, daß ich es auch wieder hören werde?
— Ihnen Allen, meine hochverehrten Damen, von Herzen und mit vieler Dankbarkeit zugethan
Friedrich Nietzsche