1885, Briefe 568–654
611a. An Louise Röder-Wiederhold
Sils-Maria, 12. Juli 1885.
Verehrte Frau,
wie angenehm, daß man noch in seinem vierzigsten Lebensjahre, unvermuthet und unverdientermaßen, zu neuen „Tanten“ kommen kann! —
Kaum waren Sie abgereist, so nahm ich mir die Erlaubniß, krank zu werden, und so ordentlich krank (mit wüthenden Kopfschmerzen und Erbrechen Tag und Nacht) daß ich, im wörtlichsten Sinne des Worts, erst heute morgen — Sonntag — wieder fähig bin, eine Feder zu führen; gestern bin ich erst vom Bett aufgestanden. Die Feder zu führen – nicht mehr! noch nicht die Gedanken! Aber ein Zeichen von mir und meines herzlichen Gefühls für Sie soll heute morgen noch zur Post, schon damit Sie nicht glauben, ich ahme die Züricher Studentinnen nach: in der That ist inzwischen nichts Briefliches an Sie eingetroffen. Alle Welt schweigt: glauben Sie mir, die Hitze „unterbindet die Blutadern aller Pflichten“, um mich mit einem medizinischen Gleichniß auszudrücken. Mein Verleger z. B. hat den Monat Juni verstreichen lassen, ohne zu zahlen: hoffentlich kommt endlich kühles Wetter und damit „Pflicht“ und „Geld“ zum Vorschein. Auch der Churer Schneider hat sein Ihnen gegebnes Versprechen nicht gehalten; doch kam eine entschuldigende Karte. Die Schreibebücher gefallen mir; und in summa hat die Tante sich in Chur viel Noth gemacht! —
Frl. v. Schirnhofer sendet Ihnen ihre Grüße, sie geht an den atlantischen Ozean, um sich zu erholen. Insgleichen grüßt auf das artigste unser maestro in Venedig: in einem Briefe, welcher von lauter mißrathnen Dingen erzählte und zuletzt den sehr energischen Entschluß ausdrückte, in einer Hauptstadt Europa’s es durchzusetzen, daß man seine Sache anhöre. Er will im Herbst nach Berlin. Man hat ihm von Wien aus eine Empfehlung für das Carlsruher Theater (u. Mottl) angeboten, doch scheint er gegen Carlsruhe eingenommen zu sein (er hat den Wiener Brief nicht beantwortet (derselbe rieth von Wien ab) Sonderbarer Weise kam Carlsruhe noch ein Mal dieser Tage in Erwägung: man empfiehlt mireinen Verleger: H. Reuther (Carlsruhe u. Leipzig) mit den Worten: „ein muthiger anständiger leistungsfähiger Verlag“. Wissen Sie etwas diesen Worten beizufügen? —
Mehr darf ich nicht schreiben. Erzählen Sie mir von Wolfsburg; auch ein alter Wunsch nach Hohenschwangau ist in mir wieder aufgetaucht.
Behalten Sie ein gutes Gedächtniß für diesen Sommer und den tollen Menschen, der so unvermuthet Ihnen über den Weg gelaufen ist — — —
Sehr dankbar, sehr ergeben
Nietzsche.