1885, Briefe 568–654
648. An Heinrich Köselitz in Wien
Nizza, 24. Nov. 85.
Lieber Freund,
endlich, nach langen Umschweifen, zur Vernunft zurückgekehrt (welche in diesem Falle Nizza heißt), bekomme ich auch schon eine Belohnung dafür, nämlich sehr ersehnte Nachrichten über Sie, einmal durch Sie selber, sodann durch Frau Röder. Es sind schlechte Nachrichten im Grunde; aber so, wie Sie sind, muß Ihnen das Schlechteste zum Vortheile gereichen — verzeihen Sie diesen Optimismus, der zum Mindesten aus der bona fides eines Freundes stammt. Sie haben „den Wind gegen sich“: gesetzt daß Sie schwindsüchtig und übermäßig zärtlich angelegt wären, so müßte man für Sie die größte Angst haben (zum Beispiel ich selber hätte für mich selber in Ihrem Falle wenig Zutrauen). Aber mit Ihren „starken Lungen“, Ihrer lebenslangen Übung im Alleinsein, Ihrer schweigsamen Tapferkeit werden Sie Herr über alle schlechten Winde werden, — und vielleicht sogar noch etwas „herrischer“ und „selbstherrlicher“ als bisher. Ein ganz alter Römer sagt von einem gleich Ihnen Kämpfenden:
„increscunt animi, virescit volnere virtus“
(es schwillt der Muth, durch die Wunde erst tritt die Tapferkeit in Saft und Kraft). Man soll es Ihrer Musik schon einmal anhören, was Krieg und Sieg sind.
Dieser Tage erquickte es mich zu erfahren, daß diese Stadt, welche ich nicht mehr wechseln und eintauschen darf, in ihrem Namen etwas vom Siege hat. Und wenn Sie hören, wie der Platz heißt, wohinaus mein Fenster schaut (herrliche Bäume, in der Ferne röthliche große Gebäude, das Meer und die schön gewundene baie des anges), nämlich „square des Phocéens“, so werden Sie vielleicht gleich mir über den ungeheuren Cosmopolitismus dieser Wort-Verbindung lachen — wirklich haben Phoceer einstmals hier sich angesiedelt — aber etwas Siegreiches und Über-Europäisches klingt heraus, etwas sehr Tröstliches, das mir sagt „hier bist du an deinem Platze“.
Inzwischen nämlich prüfte ich München, Florenz, Genua, — aber es schickt sich für meinen alten Kopf nichts Anderes als dies Nizza, abgerechnet ein paar Monate Sils-Maria: obgleich der Sommer sogar hier erquicklicher sein soll als an irgend einem Binnen-Orte Deutschlands (die Abende frische Meerbrisen, die Nächte kühl). Die Luft ist unvergleichbar, die anregende Kraft (ebenso die Lichtfülle des Himmels) in Europa nicht zum zweiten Male vorhanden. Ich erwähne endlich, daß man hier billig, sehr billig leben kann, und daß der Ort umfänglich genug ist, um jeden Grad einsiedlerischer Verborgenheit zu gestatten. Die ganz ausgesuchten Dinge der Natur, wie die Waldwege am nächsten Berge, wie die Halbinsel St. Jean, hat unsereins für sich; ebenso ist die ganze herrlich-freie Promenade am stark brandenden Meere (c. dreiviertel Stunde lang —) nur für ein paar Stunden des Tags besucht. Vergeben Sie mir, daß ich mich öfter im Geiste mit Ihrem Loose beschäftige und dabei nicht selten zu dem Schlusse komme: Sie sollten es einmal mit diesem Nizza versuchen und Deutschland Deutschland sein lassen. Wir selber, als arbeitsame und solitäre Thiere, werden uns hübsch aus dem Wege gehn, aber hier und da ein kleines Fest des Zusammenseins veranstalten. Zuletzt bin ich einer der besten Liebhaber Ihrer Musik — es würde mir im letzten Theile meines Lebens etwas Nicht-zu-Ersetzendes fehlen, wenn Sie und Ihre Kunst mir gänzlich abhanden kämen. (Gefällt es Ihnen hier nicht, so ist jeden Sonnabend Abend ein Schiff bereit, Sie nach Ajaccio zu führen. Sie schlafen die Nacht durch und finden sich früh morgens im Hafen von A<jaccio)>.) Von Genua bis Nizza fährt man präcise 5 Stunden (7 Uhr morgens ab, Ankunft um 12). Es ist nicht nur Neugierde, welche mich fragen macht, wie auf Sie gerade dies Clima wirken möchte; es ist ebenfalls nicht nur das Verlangen eines Freundes. Man ist hier so „außerdeutsch“ — ich kann es nicht stark genug ausdrücken.
Behalten Sie lieb Ihren Freund N.
Adresse: Nice (France), poste restante.