1885, Briefe 568–654
607. An Resa von Schirnhofer in Paris
Sils-Maria im Oberengadin. Juni 1885.
Mein verehrtes Fräulein,
Sie haben mir wieder mit Ihrem Brief eine angenehme Überraschung gemacht, beinahe war’s ein Besuch in Sils-Maria. Im Grunde würden Sie selber sich vielleicht hier oben jetzt wohler fühlen als in den heißen Ebenen und Städten; und sollten Sie den alten Einsiedler hier oben, gemäß dem schönen Präcedenz-Falle von 1884 mit einem mehr als brieflichen Besuche auszeichnen, so verspricht er Ihnen, daß er bei besserer Laune und Gesundheit sein will als voriges Jahr. Einstweilen habe ich die treffliche Frau Röder-Wiederhold im Hause; sie erträgt und duldet „engelhaft“ meinen entsetzlichen „Antidemocratismus“ — denn ich diktire ihr täglich ein paar Stunden meine Gedanken über die lieben Europäer von heute und — Morgen; — aber zuletzt, fürchte ich, fährt sie mir doch noch „aus der Haut“ und fort von Sils-Maria, getauft wie sie ist, mit dem Blute von 1848. — Auch steht es ganz schlimm mit meinen Ansichten über das „Weib an sich“. Genug, ich argwöhne, daß es Niemand lange mehr um mich aushält. Obwohl es viele Gründe gäbe, mir „gute Gesellschaft“ zu wünschen. Ah, wer kennt meine „sieben Einsamkeiten“! —
Schade, daß Sie Paul Bourget nicht kennen lernen! Ich meine, das wäre ein feines Fühlhorn für Alles, was jetzt in Frankreich noch „fein“ ist. Ich las: in Vorbereitung nouveaux essais de psychologie contemporaine von Paul Bourget. Paris, Alphonse Lemerre, éditeur, 27—31 Passage Choiseul. Sie würden mich beglücken, wenn Sie mir meldeten, sie seien erschienen.
Sagen Sie unserer ehrwürdigen Malvida etwas zu Gunsten Ihres Einsiedlers: ich glaube, daß ich sie diesen Winter einmal angebrummt habe. Ebenso wünsche ich der ausgezeichneten Kameradin Ihrer Zürcher Studentenzeit, Frl. Wildenow, allerbestens empfohlen zu sein.
Mit ergebenstem Gruße
Ihr N.
Und die Doctor-Dissertation? Welches Thema? —
Ihr Verhalten gegen Frl. Sal<is> ist excellent.
— „Phädra“ gelesen? Nein. — An Monods die besten Grüße.