1885, Briefe 568–654
609. An Franz Overbeck in Basel
(2. Juli) Sils-Maria, Oberengadin. <1885>
Lieber alter Freund Overbeck,
es beunruhigt mich, nichts von Dir zu hören; und zum Mindesten will ich wünschen, daß Deine Gesundheit nichts mit diesem Schweigen zu thun hat — obwohl die Hitze dieses Jahres und ebenso die Erinnerung an die schlechte lähmende Luft Basels, wie ich sie im vorigen Juni wieder kennen gelernt habe, mir auch nach dieser Seite hin besorgliche Gedanken eingiebt. Als ich hier oben ankam, war eine meiner ersten Handlungen, nach Deinem „Teichmüller“ zu suchen; leider ergab er sich als absens — woraus folgt, daß er in der Nizza-Bücherkiste steckt: was ich hiermit, zu meinem großen Bedauern, Dir melde. Dagegen habe ich hier, aus Deinem Bücherschatze, den Mainländer. Großen Dank noch für die Übersendung des Dürers an meine Angehörigen: man hat mir so sehr dafür gedankt, daß ich glauben muß, damit weit über den Begriff „Hochzeitsgeschenk“ hinausgeschossen zu haben. Möge aber die Zukunft des jungen Paars sich tröstlicher und hoffnungsvoller gestalten als dies unheimliche Bild zu verstehen giebt! Unter uns, ich habe viele Besorgnisse auf dem Herzen —, allerdings auch einige sonderbare Wünsche, gerade was diese neue Welt in Paraguay betrifft. Es kann im Handumdrehen jetzt für mich Europa unmöglich werden; und siehe da, vielleicht findet sich dort in der Ferne auch für einen solchen verflogenen Vogel, wie ich es bin, ein Ast. (Wie geschrieben steht: „so häng ich denn auf krummem Aste“ usw.)
Hier oben habe ich wieder die gleiche, mir sehr zugethane Gesellschaft des vorigen Jahres; zwei sonst in Genf lebende distinguirte Engländerinnen und jene alte Dame vom russischen Hofe, von der ich schrieb, daß sie eine der nächsten Schülerinnen Chopin’s ist: — ihr Verhältniß zur Musik ist kein Spaaß, noch im letzten Monate hat sie eine tüchtige strenge Fuga componirt. Nun ist in meiner Gesellschaft eine deutsche Dame aus Meiningen, welche auf eine briefliche Einladung meinerseits hierher gekommen ist und mir, durch Vorlesen und Nachschreiben, mit großer Güte entgegenkommt: leider ist nächste Woche ihre Zeit zu Ende. Was die Augen betrifft, so ist mein Zustand jetzt von dem Dührings wenig verschieden; dieses plötzliche reißend schnelle Verschwinden des Augenlichtes vom vorigen Sommer an bis jetzt gehört zu den Dingen, wofür ich die Gründe nicht weiß. Die Jodsalbe, welche Schiess verordnete, war wirkungslos. — Ich habe fast jeden Tag 2—3 Stunden diktirt, aber meine „Philosophie“, wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein malträtirt, so zu nennen, ist nicht mehr mittheilbar, zum Mindesten nicht durch Druck. Mitunter sehne ich mich darnach, mit Dir und Jakob Burckhardt eine heimliche Conferenz zu haben, mehr um zu fragen, wie Ihr um diese Noth herumkommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen. Die Zeit ist im Übrigen grenzenlos oberflächlich; und ich schäme mich oft genug, so viel publice schon gesagt zu haben, was zu keiner Zeit, selbst zu viel werthvollern und tiefern Zeiten, vor das „publicum“ gehört hätte. Man verdirbt sich eben den Geschmack und die Instinkte, inmitten der „Preß- und Frechheits-Freiheit“ des Jahrhunderts; und ich halte mir das Bild Dante’s und Spinoza’s entgegen, welche sich besser auf das Loos der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen „Gott“ zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als „Einsamkeit“ kenne. Mir besteht mein Leben jetzt in dem Wunsche, daß es mit allen Dingen anders stehn möge, als ich sie begreife; und daß mir Jemand meine „Wahrheiten“ unglaubwürdig mache. — —
Von meiner Mutter erhielt ich die besorgte Meldung, daß Schmeitzner bisher nicht gezahlt hat: es wäre schrecklich, wenn der Prozeß weiter gehn, resp. die Subhastation usw. beantragt werden müßte. Der Juni war der festgesetzte Termin der Zahlung. Mein Onkel, der die ganze Sache übernommen hatte, liegt auf den Tod krank.
Bitte, sende mir wieder 500 frs hier herauf. Deiner vortrefflichen Frau mich herzlich anempfehlend in alter Liebe Dein
F. N.