1885, Briefe 568–654
624. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria 21 Aug. 1885.
Lieber Freund,
mit steifen Fingern — es ist januarlich-kalt seit zwei Tagen — einen herzlichen Gruß! Der Sommer hat bisher keinen üblen Verlauf gehabt, die Gesundheit ist zum Mindesten auf einige zerstreute Tage bei mir zu Gaste gewesen. — was ich sehr hoch anschätzen muß! und mein Muth ist heute größer als er es in Venedig bei unserem letzten Zusammensein war. Ich will doch schwören, daß vino Conegliano mir zum Unheil ausgeschlagen ist! Inzwischen habe ich Milch, Reis, etwas Beefsteak, rohe Eier — und gar nichts Anderes genossen (nicht risotto, sondern Reis in Milch gekocht!)
Die letzten Wochen gab es Blitz und Donner in der Angelegenheit Schmeitzner. Doch scheint jetzt Alles endlich auf der richtigen Bahn: so daß ich am 1. Oktober mein Geld (7000 frs. —) wirklich bekommen soll. Man hatte mich möglichst mit der Sache verschont: als aber die entscheidenden Maßregeln nöthig wurden, stürzte Alles auf mich los, die Rechtsanwälte, meine Angehörigen, Schmeitzner selber, sogar Herr Widemann, es hagelte Briefe und Telegramme, und — die Verantwortlichkeit saß auf mir! Wie billig! Dank einer sehr energischen und plötzlichen Maaßregel (Pfändung des ganzen Verlags in meinem Namen: so daß Schm<eitzner>, von einer Reise kommend, alles versiegelt fand und nicht hinein konnte) auf welche Niemand vorbereitet war, wurde ein Hochdruck geschaffen. Ich hatte, unter uns gesagt, meinen Rechtsanwälten den Auftrag zu einer schleunigen Zwangsversteigerung des ganzen Verlags gegeben (und schon Mittel gesucht, dadurch in den Besitz aller meiner Bücher selber zu kommen) Diese „Zwangsversteigerung“ hat Schm<eitzner> fürchterlich erschreckt: natürlich wäre Alles zu Löschpapier-Preisen weggegangen (ich hätte zwar mein Geld nicht auf diesem Wege bekommen, aber meine „Litteratur!“ Gleich nach der Auktion würde ich gegen Schmeitzner sen. geklagt haben, dessen Bürgschaft in den Händen meiner Rechtsanwälte ist — genug, ich war gut vorgesehn) Wie jetzt die Dinge stehen, ist es Schm<eitzner> nicht mehr möglich, zum vierten Male ein gegebenes Versprechen zu brechen — er muß zahlen! Die Mittel dazu giebt der Verkauf seines ganzen Verlags an Hr. Ernicke in Chemnitz (Firma in Leipzig) für 14,000 Mark; Zahlung 1. Oktober. Den Kauf-Contrakt habe ich in den Händen. Zahlung an mich gleich nach erfolgtem Geld-Eingange: dann Rückgabe der Pfänder. — — Lieber Freund, es hat mich stolz gemacht, Ihnen mit meiner Korsischen Idee nicht mißfallen zu haben. Ich selber möchte am liebsten nach Corsica: und zwar nach Corte, meiner Residenz, wie sie als solche schon seit 4 Jahren mir im Kopfe spukt. Dort ist Pasquale Paoli Herr der Insel gewesen, der wohlgerathenste Mensch des vorigen Jahrhunderts; dort ist die Stelle für ganz große Conceptionen (Napoleon wurde dort, 1768, concipirt — in Ajaccio ist er nur geboren!)
— Die Versendung des 4. Zarath<ustra> an Frl. Druscowicz war meinerseits eine Dummheit; glücklicher Weise hat sie es so aufgefaßt, als ob sie das Buch nur lesen dürfe: sie wird es also an sie zurückschicken, ich gab ihr die dazu nöthige Adresse.
Nun aber die Hauptfrage: geht es mit der Dresdener Angelegenheit vorwärts? Ihre letzten Meldungen beglückten mich. Ich hörte gern, womöglich umgehend, etwas Neues in dieser Sache. Ob ich nach Norden reise, ob ich vielleicht einmal den Winter in Dresden verbringe, — das hängt im Grunde jetzt an Ihren Briefen.
Herr Prof. Ruthardt aus Genf, ein tüchtiger Mensch, mir sehr zugethan, und ein Musiker, vor dem ich Hochachtung habe, war längere Zeit unser Gast, ich meine der Gast meiner alten Russin, deren Lehrer er ist. Er wünscht sehr, sie kennen zu lernen. Den Winter wird er in Leipzig sein; auf der Hinreise besucht er Mottl in Karlsruhe — er wird ihn unzweifelhaft auf Ihre Oper neugierig machen.
Mit den herzlichsten Grüßen
N.
Frau Röder mit ihrem Mangel an Takt, fährt fort, sich brieflich über mein Sils-Maria lustig zu machen: was mich beinahe beleidigt. Dieser Ort soll der Nachwelt ehrwürdig in die Ohren klingen — — aber diese Weiberchen!
Dühring, Cursus, der Philosophie p. 79 steht jener Satz. — Bitte, aus Bebel eine Stelle! er citirt eine Engländerin (Elisab…) über die Dringlichkeit der geschlechtlichen Bedürfnisse des Weibes. Bitte, schreiben Sie den Satz für mich ab! Er ist erbaulich, beim heiligen Aristophanes!