1885, Briefe 568–654
619. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, gegen Anfang August — mehr weiß ich nicht. <7. August 1885>
Lieber Freund,
Hurrah, seit gestern bilde ich mir ein, daß mir etwas vom Himmel gefallen ist, ganz eigens für Sie und für Niemanden anders — nämlich ein prachtvolles Operntext-Sujet. Lesen Sie in beifolgendem Buche die Geschichte auf p. 196 und nehmen Sie die Correcturen vor, die sich von selber verstehn (z. B. daß Marianna nicht die Mutter, sondern die Schwester des Ermordeten sein muß, und daß, bei der Katastrophe, p. 198 unten, es die plötzliche Liebe ist, welche den Romanetti rettet, den Haß auslöscht und die vendetta der Familien beendet.) So hat dieses Thema Alles, was gerade Sie brauchen, weil gerade Sie es können. Erster Akt: festlich-südlich, Carneval, blutige Unterbrechung. Zweiter Akt: die große korsische Todtenklage, die Racheschwüre an der Bahre, Soli und Chöre. Dritter Akt: die gefährliche Einsamkeit eins auf den Tod Verfolgten zum Gefühl zu bringen. Gebirge, Wald, Höhlen, Verstecke, Verrath. Vierter Akt: Katastrophe mit schrecklicher Spannung, zum Schlüsse die Versöhnungs- und Verbrüderungsschwüre der zwei feindlichen Geschlechter. Alles ist männlich, das hysterische Element der Wagnerei ist hundert Meilen weit; es wird viel geschossen; die Liebe (welche im ersten Akte irgendwie keimartig angedeutet sein muß) ist dies Mal Liebe der That und nicht der lyrischen Expansion: wobei es doch, auf dem Höhepunkt des vierten Aktes, ein um so wirkungsvolleres Liebesduett abgeben könnte. Und vor Allem: alles ist wirklich theatralisch, und sogar opernhaft comme il faut! Die Rachefurien-Effekte des zweiten Aktes hat Ihnen kein Musiker schon vorweg genommen. Das Ganze hat Logik, extreme Leidenschafts-Logik — und hat überdies jene typische Art, wie sie ein Drama haben soll.
Marianna, das kriegerische Mädchen, welche im zweiten Akte wie eine Erinnys zu erscheinen hat, ist eine sehr gute Rolle: ebenso Romanetti, der, im Gegensatz zu ihr, verschlossen, vornehm-düster, alle die Züge eines tiefen Menschen zeigen muß, der seine Feinde und den Tod selber verhöhnt. Daß gerade Sie, lieber Freund, das machen können, als prädestinirt für diesen Text und diese Musik, dafür habe ich ein seltsames sigillum veritatis: nämlich Ihre sinfonia ungherese. Ja, wenn Sie mir vergönnen wollen, daß ich Ihnen einen Gedanken ins Ohr flüstern darf, der vielleicht in meinem Munde etwas Unbescheidenes hat: ich bilde mir ein, Sie haben die Ouvertüre zu dieser Oper bereits componirt, und sie sei nichts Anderes als die eben erwähnte sinfonia. Das Schwere, Harte, Gedrängte, Sehnsüchtige, gleichsam Tragödien-schwangere der korsischen Seele scheint mir unübertrefflich gut darin ausgedrückt. Zuletzt ist der „Corse in Musik“ zu erfinden: weshalb sollte nicht „der Ungar“ mit dabei helfen? Es ist sehr gut, daß ein so undeutscher und unitaliänischer Typus der Musik überhaupt schon eine Art Bürgerrecht erlangt hat.
Sie werden diesen Text viel unbedenklicher dichten können als einen griechischen (ich wenigstens habe eine schreckliche Angst vor griechischen Texten, jede antike Statue sieht mich an, als ob sie sagen wollte „ich und Eure Musik — wir vertragen uns nicht!“ Pardon, meine Scepsis braucht nicht die Ihrige zu sein, werther Freund! —
Lesen Sie, bitte, südliche Volkslieder zum Versuche und in summa — seien Sie nicht ungeduldig über einen Freund, der es beinahe nöthig hat, daß es Ihnen gelingt, im höchsten Sinne, weil es ihm selber, in Bezug auf das ganze Leben, nicht gelungen ist.
Von Herzen
Ihr N.