1885, Briefe 568–654
584. An Heinrich von Stein in Halle (Entwürfe)
<Nizza, Mitte März 1885>
Diesen Winter bekommt man keine Briefe von mir, ich bin augenleidend, in einem Grade, daß ich fürchte, eines Tages und ganz plötzlich, blind zu sein — Dies sage ich nur, um mich zu entschuldigen, dafür daß ich auf Ihren Brief so spät antworte. — Mein werther Freund, Sie wissen nicht, wer ich bin, noch was ich will. Mein Vortheil ist es, zuzusehen, was Andere thun und wollen, ohne selber dabei erkannt zu werden. — Ich weiß sehr gut, daß Ihre Liebe und Verehrung für R<ichard> W<agner> zu groß ist, als daß Sie einen M<enschen> erkennen könnten, der grundsätzlich von ihm verschieden ist. Was würden Sie von mir denken, wenn ich sagte, daß ich R<ichard> W<agner> eben so sehr tief bedaure als verachte? Sie würden denken, ich sei verrückt. Es ist mein Loos, mich nur unter Masken zu zeigen, ich bin sehr ehrlich gegen Sie, Ihnen so viel von mir zu verrathen. —
Dies unter uns
Ihr ergebenster
N
Sie gefallen mir sehr: nur sollten Sie ernsthaft Dichter und schlechterdings nicht Aesthetiker und Philosoph sein wollen.
Was R<ichard> W<agner> anbetrifft, von dem Ihr Brief redet: so gehört er zu den Menschen, welche ich am meisten geliebt und auch am meisten bedauert habe. Doch liegt es mir ferne, mich je mit ihm zu verwechseln oder zu vergleichen: er gehört einer ganz anderen Ordnung von Menschen an — und am letzten wohl zu den großen Schauspielern —
Es ist schwer zu erkennen, wer ich bin: warten wir 100 Jahre ab: vielleicht giebt es bis dahin irgend ein Genie von Menschenkenner, welches Herrn F. N. ausgräbt. — Im Übrigen — unter uns gesprochen — habe ich Gründe vorsichtig zu sein und Schritt für Schritt zu thun. Schon diesen 4ten Z<arathustra> habe ich nicht mehr der Öffentlichkeit anvertraut.
Dies Werk — es braucht Ihnen nicht zu gefallen, Sie sollen sich ja keinen Zwang anthun! Werke dieser Art sind sehr anspruchsvoll, sie wollen Zeit. Da muß erst die Autorität von Jahrhunderten dazu kommen, daß so Etwas recht gelesen wird. Einstweilen — — —
Ich will bei Gelegenheit einmal den deutschen Musikern die Leviten darüber lesen, was sie von W<agner> zu lernen und zu verlernen haben — sonst bleibt auch in der Geschichte der Musik W<agner> schließlich wie ein großer Thunichtgut übrig
Was aber gar das Reich der Erkenntniß angeht — um des Himmels Willen, wo haben Sie Ihre Augen — was hat da dieses Genie der deutschen Unklarheit zu schaffen, der Nichts ordentlich gelernt und Alles durcheinander gemantscht hat, Pardon und — — —
Soll denn dieses Genie der deutschen Unklarheit auch noch nach seinem Tode fortfahren Unfug zu stiften? Sie mir in einem trüben Winter unter Freunden mit dem W<agner> L<exikon> beschäftigt zu denken — nein, dabei jammert’s mich und ich gedenke meiner eigenen elenden Zeiten, als ich jung war. Lesen Sie doch zur Wiederher<stellung> etwas Stärkend<es> und Herzerh<e>bend<es>, lesen Sie Montaigne — falls Sie zu meinem eigenen, freilich gefährlich starken Wein keinen Durst haben, und noch nichts von besseren Büchern wissen.
Ihnen als dem Verfasser des Wagner-Lexikons! in das ich inzwischen auch ein Mal hineingeblickt habe — und daß ichs ausspreche, mit einem unsäglichen Abscheu vor diesem anmaaßlichen Gefasel über jeglich Ding. „Man soll diesen Sumpf nicht aufrühren“ μὴ κωὴ καμαρώοου, sagte der Syrakusaner — — —