1885, Briefe 568–654
568. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Nizza, Anfang Januar 1885>
Meine Lieben,
es war meine Absicht, Euch brieflich gleich nach dem Eintreffen der Bücher zu danken: aber — die Bücher treffen nicht ein, ich weiß nicht, was geschehn sein mag. So will ich denn keinen Tag mehr verlieren und euch erzählen, wie herzlich angenehm die kleine hübsche Sendung war: erstaunlich, was Alles in so wenig Raum Platz hat! Die goldnen Knöpfchen sind aber für euren halbblinden Fritz zu kostbar, ich wage nicht sie zu tragen. Ich lag zu Bett, als Euer Geschenk ankam: am ersten Januar (ich rechne aus, daß ich nun 5 Mal hinter einander an diesem Tage krank war!)
Die Wahrheit zu sagen: seit meinem letzten Briefe gieng es immerfort schlecht, das Wetter änderte sich, und damit war es für mich aus. Ewige Anfälle, Erbrechen über Erbrechen; jetzt weiß ich vor jeder Mahlzeit nicht mehr, ob essen oder nicht essen. Die Schwäche des Magens ist in einer eklatanten Weise wieder zum Vorschein gekommen, und in einer Pension ist da schlimm sich einrichten.
Mein Seufzer, den ich schon Ein Mal ausdrückte, heißt auch heute wieder: man schaffe mir eine Köchin!
Dann ist Nizza auf die Dauer nicht möglich, die große Stadt, das unerträgliche Gelärm der Wagen usw. Ebenso habe ich die Herrn Mit-Pensionäre satt, man ist eigentlich in einer gar zu schlechten Gesellschaft, und darf kaum hinsehn, wie der liebe Tisch-Nachbar bei Tisch Messer und Gabel führt. Von dem, was bei Tisch geredet wird, nicht zu reden! Ich denke an meine ehemalige Genueser Isolirtheit mit Trauer und Sehnsucht zurück, obgleich ich wie der ärmste Schlucker gelebt habe; aber ich war nicht von solchem mittelmäßigen deutschen „Pack“ umgeben, es war stolzer und mir angemessner.
Herr Lanzky ist ein rücksichtsvoller mir sehr ergebener Mensch — aber die alte Geschichte: während ich Jemanden nöthig habe, der mich unterhält, läuft es darauf hinaus, daß ich unterhalte. Er schweigt, seufzt, sieht auch aus wie ein Schuster und versteht weder zu lachen noch Geist zu zeigen. Unausstehlich auf die Länge. —
Er geht nächsten Sonntag fort, nach St. Raphael, ein paar Stunden weiter an der Küste, um diesen Ort für mich zu untersuchen. Wir stehen mit einer dortigen Villa in Unterhandlung. —
Köslitz hat in einem Tonhallen-Concert seine Ouvertüre mit schönem Erfolge aufgeführt und selber dirigirt: ich habe einen langen Bericht von Overbeck darüber, der zugegen war. —
Der Gedanke der „Bismarckreden“ kommt in der angenehmsten Weise einem Wunsche entgegen, den ich den ganzen Winter über schon gegen Lanzky ausgesprochen habe. B<ismarck> nämlich läßt sich im Reichstag gehen und bringt seine innewendigsten Dinge heraus, wie Goethe vor Eckermann. Der erste Fall, daß ein Staatsmann einen Reichstag nöthig hat, um über Alles und Jedes sein Herz auszuschütten. Offenbar kann er vor seiner Frau es nicht thun: die ist zu dumm. Schließlich beneide ich ihn selbst um einen solchen Reichstag.
— Von Herzen Euer dankbarer
F.
Was hat mir der gute Stein für einen dunklen Brief geschrieben! Und das zum Danke dafür, daß ich ihm ein Gedicht von mir schickte! Es weiß Keiner mehr sich zu benehmen.
Lanzky’s Aufsatz ist zu dumm und unklar, ich hab’s satt mit der deutschen Stumpfheit.
Nachschrift drei Tage später: endlich sind die Bücher angelangt, allerschönsten Dank! Aber wo bleibt das röthliche dicke Schreibbuch? — Gesundheit langsam sich verbessernd, schönes Wetter.
Mit den Augen geht es immer schlimmer — —