1885, Briefe 568–654
613. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria Oberengadin 23 Juli 1885.
Lieber Freund,
darauf hätte ich wetten mögen, daß Sie auf Ihren „Nothschrei“-Brief in dieser Weise selber antworten würden, wie es heute durch Ihre Karte geschieht — zu meiner großen Freude, wie ich gerne eingestehe. Aus meinem eignen Briefschreibe-leben kenne ich das Phänomen nur zu gut, daß man eine Dummheit und noch dazu eine Unzartheit begeht, wenn man, als Adressat eines Briefs, durch eine geschwinde Beileids-Bezeugung sich zwischen diese natürliche „Auslösung“ (Herstellung der persönlichen Souverainetät) drängt. Ecco! Geredet wie ein Pedant! — aber gefühlt wie ein Freund, glauben Sie’s mir! —
Ich notirte mir gestern, zur eigenen Bestärkung auf dem einmal eingeschlagnen Wege des Lebens, eine Menge Züge, an denen ich die „Vornehmheit“ oder den „Adel“ bei Menschen herauswittere — und was, umgekehrt, Alles zum „Pöbel“ in uns gehört (In allen meinen Krankheits-Zuständen fühle ich, mit Schrecken, eine Art Herabziehung zu pöbelhaften Schwächen, pöbelhaften Milden, sogar pöbelhaften Tugenden — verstehen Sie das? Oh Sie Gesunder!) Vornehm ist z. B. der festgehaltene frivole Anschein, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung maskirt wird. Vornehm ist das Langsam-Gehen, in allen Stücken, auch das langsame Auge. Wir bewundern schwer. Es giebt nicht zu viel werthvolle Dinge; und diese kommen von selber und wollen zu uns. Vornehm ist das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen den, welcher leicht lobt. Vornehm ist der Zweifel an der Mittheilbarkeit des Herzens; die Einsamkeit, nicht als gewählt, sondern als gegeben; die Überzeugung, daß man nur gegen Seines-Gleichen Pflichten hat und gegen die Andern nach Gutdünken verfährt; daß man sich immer als Einen fühlt, der Ehren zu vergeben hat, und selten Jemandem zugesteht, daß er Ehren gerade für uns auszutheilen habe; daß man fast immer verkleidet lebt, gleichsam incognito reist, — um viel Scham zu ersparen; daß man zum otium fähig sei, und nicht nur fleißig wie Hühner: — gackern, eierlegen und wieder gackern und so fort. Und so fort! alter Freund, ich ermüde Ihre Geduld, aber Sie errathen gewiß, was mir an Ihrem Leben gefällt und Freude macht, und was ich immer fester unterstrichen wünschte.
Der Gedanke, welchen Sie in Betreff des Herrn Wiedemann äußern, ist mir sehr willkommen: übersenden Sie ein Exemplar so, daß daraus auch meine warme Theilnahme für ihn ersichtlich ist — als eine Art Glückwunsch zur Vollendung seines Werks. Ich kenne dasselbe nicht: was Sie mir andeuten, über „Gleichgewichtslagen“ und „Unzerstörbarkeit der Kraft“, gehört auch zu meinen Glaubens-Artikeln. Doch haben wir Dühring gegen uns: zufällig finde ich eben diesen schönen Satz „der Ursprungszustand des Universums oder, deutlicher bezeichnet, eines veränderungslosen, keine zeitliche Häufung von Verschiedenheiten einschließenden Seins der Materie, ist eine Frage, die nur derjenige Verstand abweisen kann, der in der Selbstverstümmelung seiner Zeugungskraft den Gipfel der Weisheit sieht“. Dieser Berliner „Maschinist“ hält uns also, mein werther Freund, für castrati: zum Mindesten hoffe ich, wir haben eine Art Schadenersatz für den angedeuteten Mangel darin, daß wir — „schöner singen“ als Herr Dühring. Ich kenne kaum eine widerlichere Tonmanier als die seine. — Daß ich den „endlichen“ d. h. bestimmt gestalteten Raum für unabweislich im Sinne einer mechanistischen Weltausdeutung halte und daß die Unmöglichkeit einer Gleichgewichtslage mir mit der Frage, wie gestaltet der Gesammt-Raum ist — gewiß nicht kugelförmig! zusammen zu hängen scheint — das habe ich Ihnen schon mündlich erzählt. —
Meine Gesundheit beunruhigend unsicher; irgend eine cardinale Gefahr. Frau Röder ist seit einem halben Monat fort, bene merita! Aber, unter uns, sie paßt mir nicht, ich wünsche keine Wiederholung. Alles, was ich ihr diktirt habe, ist ohne Werth; auch weinte sie öfter als mir lieb ist. Sie ist haltlos; die Frauen begreifen allesammt nicht, daß ein persönliches malheur kein Argument ist, am wenigsten aber die Grundlage zu einer philosophischen Gesammtbetrachtung aller Dinge abgeben kann. Das Schlimmste aber ist: sie hat keine Manieren, und schaukelt mit den Beinen. Trotzdem: sie hat mir über einen bösen Monat weggeholfen, mit der aller besten Gesinnung. — Heiß, unsinnig heiß auch hier. Ihr Freund
N.
Ich hatte geglaubt, mein vierter Z<arathustra> widerstände Ihnen? In der That, er ist schlecht zugänglich, mit seinen entlegenen Zuständen und „Weltgegenden“: welche aber doch existiren und nicht nur arbiträr sind. Für Sie gesagt, als meinen „Einzigen“.