1872, Briefe 183–286
264. An Carl von Gersdorff in Berlin
<Basel, 18. Oktober 1872>
Mein lieber guter Freund,
schön, sehr schön! Herrliche Nachrichten das! Nun siehst Du, Dein Lebensschiff kommt ganz allmählich immer mehr in’s allein gemäße, allerbeste Fahrwasser: ein ganzes tüchtiges Leben hast Du jetzt zu Deiner Bildung vor Dir, kein sogenanntes „Amt“ verzehrt Deine guten Stunden und Deine Heiterkeit, sondern im guten alten römischen Stile gehst Du, ohne politische Begierden, auf’s Land, um dort Dir selbst, Deinen edlen Zielen und Deinen Freunden zu leben. Man hat schwer und ohne Ende zu thun, ehe man von sich sagen kann, was Aeschylus vom Orest sagt
ἔξω κομίζων ὀλεθρίου πηλοῦ πόδα.
denn „der verderbliche Schlamm“ der Gegenwart ist übermäßig groß und droht jeden zu ersticken.
Inzwischen nun ist die Hauptaufgabe, Dich für Deine italiänische Reise gut vorzubereiten. Ich war ja jetzt eben etwas in Italien (einen Tag, nämlich in Bergamo), gestehe Dir aber, daß es ohne bequeme Handhabung der Sprache rein unausstehlich dort ist. Also vor allem sprechen können und geschwind sprechen. Dann scheint es mir als ob man mit der Lektüre von Burckhardt’s Cicerone aufstehen und schlafen gehen müßte: es giebt wenig Bücher, die so die Phantasie stimuliren und der künstlerischen Conception vorarbeiten. Freilich hast Du die allerschönste und unmittelbarste Vorbereitung im Umgang mit Deinen trefflichen Bildhauer-Freunden. Sage Ihnen doch von mir etwas Herzliches: was Du mir über sie schriebst, erfüllt mich mit der größten Begierde, einmal mehr von ihnen zu hören und zu sehen. Wie glücklich bist Du, sie um Dich zu haben! Mitten in dem entsetzlichen ekelhaften Berlin! Du hättest es gewiß dort nicht so lange ausgehalten.
Die Rohdesche Gegenschrift ist immer noch nicht in meine Hände gelangt: die Romundtsche Erstlingsleistung verspricht Gutes, ob sie schon noch etwas sehr „Erstling“ ist. Doch gefällt sie mir sehr durch den spezifisch philosophischen Zug, der recht unmodern und namentlich „unhistorisch“ den Leser anweht. Ich bin bei dem ruhig, zumal ich ihn jetzt in der Nähe habe. Du wirst an ihm einen reinen braven und ernstsinnigen Menschen haben, der sich in unserem Kreise wohl und heimisch fühlt, ob er gleich unmusikalisch ist — immerhin, er ist nicht ohne alles „Dionysische“ um mich meiner Schulsprache zu bedienen.
Lieber Freund, der Sommer im nächsten Jahre wird ja über alle Erwartung reich und fruchtbar für uns werden — Du bringst Deine frischen Italien-Eindrücke zu uns — zusammen bereiten wir uns durch das Studium des Nibelungenwerkes vor. Burckhardt, Romundt Overbeck und ich — wir begrüßen Dich mit Jauchzen, wenn Du Deinen Fuß nach Basel setzen wirst. In Florenz triffst Du die guten Frauen noch, wenn Du nur vor Ostern dort eintriffst — lies nur die Memoiren! Du wirst Dich wundern.
Aus Bayreuth hat mir Frau W<agner> zum Geburtstag geschrieben, sie war krank und hat zu Bett gelegen. Eine Halsentzündung überfiel sie, nach den Beschwerden des Umzugs in’s zweite Provisorium. Anfang November beginnt die Rundreise an allen Theaterstationen. Haus und Stadt behagen wohl, man erwartet den Besuch Liszt’s. Der Schlund wird festgemauert, Conferenzen finden statt usw.
Frau W. hat in den Tagen der Genesung wieder mein Buch vorgenommen und schreibt „sie müsse immer von Neuem über die Meisterschaft Ihrer Darstellung staunen; besseres, geehrter Freund, werden Sie nie schreiben, ich halte eine größere Vollendung, als sie in diesem Buche herrscht, für unmöglich; aber anderes und gleich Gutes werden Sie uns geben, und auf anderen Gebieten.“ — Wie wird Einem da zu Muthe! So übermüthig und beschämt zugleich! Vor allem aber fühle ich dann daß ich, um mich selbst jetzt mit einer Produktion zu befriedigen, nach großen kühnen und sehr idealen Zielen zu ringen habe. Du hast von „Einfachheit und Größe“ gesprochen: das ist ein Klang aus meiner Seele, dort liegen auch meine Ideale.
Wir wollen uns auch fürderhin freund und nahe bleiben, nicht wahr, mein alter guter Gersdorff?
Treulichst Dein F. N.