1872, Briefe 183–286
229. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel, 11. Juni 1872> Dienstag.
Heute schreibe ich Dir nur, mein lieber Freund, daß Du gänzlich unbesorgt um mich seist; ich befinde mich wirklich in der von Dir angewünschten μελιτόεσσα εὐδία, ja sogar in einer gewissen übermüthigen Spannung. Ich habe das Vergnügen, meine Schwester zu Besuch bei mir zu haben und verlebe mit ihr das harmloseste Dasein, während mich in einsamern Stunden die Bilder besuchen, die ich in meiner nächsten Schrift zu bannen suchen werde. Dazu habe ich ein Wohlgefallen an meinen Collegien, zumal an dem über vorplatonische Philosophen; diese großen Wesen erscheinen mir lebendiger als je und nur zum Spott kann ich des ehrsamen Zeller langgesponnene Berichte lesen. Beiläufig, daß ich Dir in Betreff der chronologischen Frage bei Pythagoras mit Wonne und Lob gefolgt bin: überhaupt sauge ich Deinen Aufsatz jetzt ordentlich aus. Findest Du das billigenswerth, daß ich, ungefähr nach Aristoteles Manier, aber sonst ganz wider die Sitte, die Pythagoreische Philosophie erst hinter der Atomistik und vor Plato behandele: die eigentliche Ausbildung muß doch da hinein fallen. Daß Pythagoras selbst schon alle Keime jener Philosophie gefunden habe, wie das Zeller noch annimmt, glaube ich nicht, und sehr schwach scheint alles, woraus er das Bekanntsein der pythagorischen Principien bei Parmenides usw. erschließen will. Die ganze Zahlenphilosophie erscheint mir umgekehrt als ein neuer Weg, zu dem das sichtbare oder scheinbare Mißlingen des Eleatischen, des Anaxagoras, des Leucipp ermuthigte — bitte, sage mir doch Deine Meinung über diese Dinge, ganz kurz, mit einem Worte.
Dann habe ich eine besondere Bedeutung des Anaximander entdeckt. — Zu den Zeitbestimmungen des Apollodor habe ich principiell Zutrauen: er hat schon das ganze willkürliche Wesen der älteren διαδοχαί entdeckt und durch seine Zahlen vernichtet. — Ich behandele als Hauptkerle Anaximander Heraklit Parmenides — in dieser Reihenfolge: dann Anaxagoras Empedocles Democrit. Thales nehme ich als Vorläufer zu Anaximander, Xenophanes als Vorläufer zu Parmenides, Anaximenes als Vorläufer des Anaxagoras Empedocles Democrit (weil er zuerst eine feste Theorie über das Wie! des Weltprozesses, μάνωσις πύκνωσις aufstellt). Leucipp ist auch Vorläufer. Außerdem giebt es Nachläufer, Zeno etc. Das ist doch eine schöne Kategorientafel, Hauptkerl, Vorläufer und Nachläufer!
Jetzt muß ich aber zu Mittag essen. Mein lieber Freund, ich denke Deiner immer mit der größten Liebe und Beruhigung: auch mit der Empfindung, als ob wir einer großen Gefahr entgangen seien, nämlich der Gefahr, nicht zusammen in Bayreuth gewesen zu sein. Verdient das nicht eine besondere Libation? Diese sofort zu bringen begebe ich mich zu Tische.
Ich grüße Dich von ganzem Herzen und bitte Dich um ein Paar Briefzeilen
Dein Fr. N.