1872, Briefe 183–286
202. An Erwin Rohde in Kiel
Basel Freitag. <15. März 1872>
Endlich liebster Freund kommt wieder ein Brief von mir. Wundere Dich nicht: es gab viel und giebt viel zu überdenken. Mitten in der Berufsnoth und zwar in der doppelten hatte ich noch meine 6 Vorträge über die Bildungsschulen auszuarbeiten. Dies wird also meine zweite Schrift werden, und hoffentlich hast Du sie bis Mitte des Jahres oder früher in den Händen. Sie ist durchaus exhortativ und im Vergleich mit der „Geburt“ populär oder exoterisch zu nennen. Ich will mir das Vergnügen machen, sie mit einer starken Einleitung an den „philologischen Verein“ in Leipzig zu addressiren. Du verstehst sicherlich diese Maßregel nach allen ihren Seiten hin. ... Mit der hier erzielten Wirkung bin ich außerordentlich zufrieden, ich habe die ernsthaftesten und ergebensten Zuhörer, Männlein und Weiblein und so ziemlich die ganze Studentenschaft besseren Schlags. Wenn ich an meine Hoffnungen und Pläne denke, so bist Du mir immer gegenwärtig, so daß ich neulich sogar einmal ärgerlich wurde und mir sagte: „immer nur Rohde und Niemand Anderes! Das hole der Teufel!“ Mein lieber und treuer Kamerad, wir müssen nun eben versuchen, mit einander uns so weiter durchzukämpfen. Wenn ich nur auch wieder mit meinen Bildungsanstaltgedanken so unbedingt Deine Theilnahme und Zustimmung finde, die mir bei der Taufe des Erstlings so erquickend war! Es ist traurig, daß ich Dir erst alle diese Dinge gedruckt vorlegen kann: während im Grunde zwischen uns alles, Wort für Wort, durchsprochen, durchdacht, durchlebt sein müßte. Nun es kommt auch einmal ein Tag, wo es anders wird: daran glaube ich.
Was habe ich nun erlebt? Sehr gute Briefe und mindestens sehr merkwürdige über mein Buch zB. von Romundt; freilich sehr metaphysisch: er schreibt jetzt an einer Abhandlung — nun worüber doch! natürlich über das „Ding an sich“ und wird sie mir widmen. Dann von Franz Liszt (höchst überraschend!), von Hans von Bülow, von Hauptmann von Baligand, von Gustav Krug, von Dr Hagen aus Bern, dann habe ich mehrere Berichte durch die Tribschener Freu<n>de, woraus ich weiß, daß das Buch von Moskau bis Florenz sich ausgebreitet hat und überall sehr ernst und begeistert verstanden wird. Kurz, es bildet sich für dasselbe eine kleine Gemeinde — nur von den wackeren Philologen höre ich nichts — stumpf — dumpf — Mum! Mum! wie es in den Shakesspearübersetzungen heißt.
Übrigens verstehe ich alles, was Du in Deinem Briefe zuletzt mir sagst, und ich frage Dich deshalb nochmals, ob Du Lust hast zu einem größeren Artikel in der Norddeutschen Allgem. (Sonntagsbeiblatt) oder zu einem Brief an den Redakteur des Rheinischen Museums, zum Abdruck für dasselbe. Beides scheinen mir überlegenswerthe Möglichkeiten. Die Anstößigkeit dürfen wir vor Philologen nicht scheuen, und ich gehe jetzt darauf aus, alles möglichst an die rechte Adresse zu bringen. Noch ein anderer Einfall: es wäre möglich, den Brief über mein Buch an den Berliner Wagnerverein zu richten, natürlich zum Druck für die Nordd. Allgem. Sodann könnte ich Dir noch vorschlagen, einen Vortrag für die diesjährige Philologenvers, anzukündigen. Alle diese Vorschläge sind ziemlich gleichmäßig skandaleus. Aber wozu die Verschämtheit, wenn man was Rechtes zu sagen hat?
Das Beste übrigens wäre vielleicht ein offener Brief über das Buch, an Richard Wagner addressirt, von ungefähr 40 Seiten und schön gedruckt bei E W Fritzsch. Dabei wäre es nöthig, Dich als Philologen zu geriren und als Lehrer: vielleicht könnte dies eine kleine Widmung zu dem Gründungsfesttag in Baireuth sein. An Publicität für ein solches bei solcher Gelegenheit abgelegtes Zeugniß würde Dir es nicht fehlen.
Das ist wohl der erträglichste Einfall. Schreib mir doch ein Wörtchen darüber. Und nun leb wohl, mein lieber Kriegs und Friedenskamerad!
Dein getreuer, jetzt zum
Mittagsessen sich rüstender Freund
FN.