1872, Briefe 183–286
209. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
<Vernex, zweite Aprilhälfte 1872>
Hochgeachteter Herr,
vom Genfersee aus bekommen Sie endlich von mir eine Antwort, die ich Ihnen nur deshalb so spät zustelle, weil ich inzwischen eine ernste und wichtige Entscheidung zu treffen hatte. Dieselbe berührt unsere Angelegenheit insofern, als sie sich jedenfalls verzögert. Meine Vorträge sollen noch vollständig umgearbeitet und in eine andre Form gegossen werden; wozu ich vor allem Zeit brauche. Dafür bekommen Sie auch, wenn ich fertig bin, einen echten und rechten „Verlagsartikel“ das heißt einen solchen, dessen Wirksamkeit uns überdauern soll. Vertrauen Sie nur immer etwas meiner „Litteratur“; ich werde nie viel schreiben; aber das Wenige werde ich Ihnen immer zuerst anbieten, vorausgesetzt daß es einen allgemeineren Charakter hat und nicht zu speziell philologisch ist. Über dieses Wenige dürfen wir uns schon einige Hoffnungen machen. Es lebt und wird leben. Was für merkwürdige Briefe habe ich bereits über mein letztes Buch bekommen! Meine philologischen Fachgenossen sind freilich noch sehr zurück — aber warten Sie nur etwas. Diese werden es lesen müssen und immer wieder lesen müssen. Und wir erleben eine dritte Auflage eben so gewiß wie eine zweite.
Heute bitte ich Sie, noch ein paar Exemplare auf meine Rechnung und in meinem Namen zu versenden. Die Adressen weiß ich nicht, doch müssen dieselben in Leipzig leicht zu erfahren sein. Nämlich ein Exemplar an den Musikhistoriker Ambros, der jetzt, glaube ich, in Wien lebt. (Diese Zusendung hat mir Bülow angerathen, ich wäre nie auf diesen Einfall gekommen) Dann an den Verfasser der „Philosophie des Unbewußten“ E. von Hartmann. Dann zuletzt an den Redakteur des Kladderadatsch Dohm, der wie ich höre ein Enthusiast ist.
Nächstens wird etwas bei Ihnen eintreffen, was bestimmt ist, Sie etwas zu überraschen, vielleicht auch zu belustigen.
Auf Wiedersehn in Baireuth! Sie werden wissen, daß R. W. direkt von Wien sich nach Baireuth begiebt. Vielleicht wird die „Götterdämmerung“ in dieser Woche fertig, wenngleich nur in erster Skizze. Dies erzähle ich aber nicht dem Redakteur des musikal. Wochenblattes.
Sehen Sie doch ja zu, daß Sie alles Verstimmende Betrübende Aufregende von W. in dieser Zeit fern halten. Ich bitte Sie persönlich darum, da ich in den Ostertagen Zeuge der Wirkung war, die ein J. J. Weber zu schreibender Brief auf W. ausübte. Auch Frau W. läßt Ihnen, verehrter Herr, durch mich den gleichen Wunsch aussprechen. Es lastet so viel auf diesem einen Manne, daß wir alle gleichmäßig so gut wie möglich helfen müssen, das Unvermeidliche mit ihm und für ihn zu tragen.
Leben Sie wohl, werther Herr Landsmann! Ich freue mich Sie im Mai zu sehen!
Ihr ergebenster
Friedr Nietzsche.
Pension Lorius in Vernex bei Montreux.