1872, Briefe 183–286
258. An Carl von Gersdorff in Berlin
<Splügen, 5. Oktober 1872>
Mein lieber Freund, ich bitte Dich mir zu verzeihen, daß ich so lange geschwiegen habe: das Sommerhalbjahr ist für mich erst seit vorigem Sonnabend zu Ende, bis dahin aber war ich gleichmäßig für Choephoren und vorplatonische Philosophen Tag für Tag in Thätigkeit, hatte aber außerdem noch den Besuch von Mutter und Schwester, so daß augenblicklich ich alle nur möglichen Briefschulden habe. Hierher, an die Paßgrenze der Schweiz und Italiens habe ich mich zurückgezogen und bin über meine Wahl, bis auf Tinte und Feder (wie Du merkst), sehr zufrieden, sehr glücklich! Wunderbare reiche Einsamkeit, mit den herrlichsten Straßen, auf denen ich stundenlang gehen kann, in meine Gedanken versunken, ohne in einen Abgrund zu fallen: so bald ich aber um mich sehe, ist etwas Neues und Großes zu sehen. Die Menschen kommen nur mit den Posten hier durch, ich esse mit ihnen zu Tisch — meine ganze Berührung mit ihnen! — sie sind wie die Platonischen Schatten vor meiner Höhle.
Wenn Du diesen Brief herausconjicierst, so bist Du ein ordentlicher Philologe.
Wenn ich dann einmal weiter reise, so werde ich Brescia in’s Auge fassen, um auch dort wieder auszuruhen dh. wahrhaft zu reisen, wahrhaft zur Erholung zu reisen! Dort will ich die Bilder eines großen Venetianers studiren, des Moretto, und nur diese: so werde ich mir nicht den Magen, die Augen und die Ferien verderben.
Leider also werden wir uns in diesem Herbst nicht sehen; mein Plan für Norddeutschland war schon im Geiste fertig gedacht, und Du kamst recht ausdrücklich in diesem Plane vor — da verführte mich das herrlichste Wanderwetter zum Wandern.
Übrigens hatte ich mir vorgenommen, bei dieser norddeutschen Reise, auf ein-zwei Tage selbst Berlin zu berühren. Ich wollte nämlich das Atelier Deiner künstlerischen Freunde einmal mit Augen sehen. Besonders begierig bin ich, einmal etwas von dem Goethedenkmal durch Dich zu hören. Ich las eine sehr feindselige Beurtheilung von einem Dr Meyer (in dem Lützow’schen Kunstblatt), aber doch in einem Tone geschrieben, der der ungeheuchelte Ausdruck der Bewunderung ist, der Bewunderung einer großen Begabung. Da wurde eine Nebenfigur, ein bärtiger Mann, als Repräsentant der Tragödie auf’s Höchste hervorgehoben — wäre es Dir nicht möglich, liebster Freund, meinem Wunsche nach Anschauung gerade dieser Figur irgendwie zu Hülfe zu kommen, durch Zeichnung oder Photographie?
Nun habe ich Dir noch von ein paar herrlichen Tagen zu berichten, in denen Deiner so oft, auch mit Gläserklingen gedacht wurde. Ja, wir vermißten Dich unter uns — Frl von Meysenbug, Olga Herzen und ihr Bräutigam Dr Monod aus Paris. Welch ausgezeichnet gute und nicht genug zu schätzende Menschen! Auch Hr. Monod, den Du noch nicht kennst, paßt außerordentlich gut in diesen Kreis, er ist Historiker, in Deutschland gebildet und, obschon echter Franzose, von dem edelsten Wunsche beseelt, nicht gegen das deutsche Wesen die Unparteilichkeit zu verlieren. Kennst Du von ihm die vielgelesene Schrift Français et Allemands, Schilderung seiner Kriegserlebnisse? Bei dieser Gelegenheit empfehle ich Dir die 8 Artikel über die Franzosen in der Augsburger Allgem. nachzulesen, welche sie in den letzten zwei Monaten aus der Feder des Prof. Hillebrand in Florenz hatte, höchst merkwürdige Artikel, die zu schreiben wenig Deutsche befähigt gewesen wären.
Endlich — weißt Du daß es von der guten Frl von Meysenbug eine Selbstbiographie giebt? Sie überraschte mich damit — denn ich wußte nichts davon — indem sie mir eines Tages ein in Basel erschienenes Buch Mémoires d’une Idéaliste schenkte. Sehr lehrreich und rührend! Lies es ja!
Meine französische Übersetzerin bei Genf arbeitet tüchtig: und Hr von Senger übersandte mir seitdem herzliche und tief empfundene Zeichen seiner Neigung. Neulich erschien in prachtvoller Ausstattung der neue große Kiepertsche Atlas von Hellas von 1872, als Geschenk. — Romundt hat eine Schrift drucken lassen: sobald ich nach Basel zurück komme, schicke ich Dir ein sehr schönes Exemplar davon, mit der Bitte, es in meinem Namen Frau von Schleinitz zu überreichen.
Inzwischen, alter lieber Freund, denke an mich wie ich immer mit herzlicher Liebe mich Deiner erinnere. Lebe wohl!
Dein Friedr Nietzsche
Bitte schreibe aber nur nach Basel.