1872, Briefe 183–286
212. An Erwin Rohde in Kiel
Basel 30 April 72.
Mein guter lieber Freund, das ist ja ein wahres Glückstelegramm, nach allen Seiten hin Licht Luft Wärme und Wohlgefallen bei Gott und den Menschen verbreitend! Denke Dir daß ich gerade in diesen Tagen eine derartige schnelle Wendung recht von Herzen ersehnte, weil ich plötzlich die Angst bekam, es möchte Dir vielleicht meine Freundschaft schlecht bekommen und bei der Kameraderie übel angerechnet werden. Ich wollte Dich eben brieflich, aber inständig angehen, ja nichts zu unternehmen, was auf einen sehr nahen Umgang mit mir oder gar mit Wagner deuten ließe; denn schon jetzt, fürchte ich, ist unsre Centralblattangelegenheit mit einer gewissen komischen Färbung weit genug herumgetragen worden, um möglicherweise Den und Jenen gegen Dich aufzureizen. Jetzt aber, wo wir wie zwei Gewappnete mitten in der akademischen Zunft als treue Waffengefährten stehen, und die „Lebensnoth“ einmal ihr Antlitz verhüllt hat, dürfen wir auch wieder Mancherlei mehr wagen, um die Leute zu erschrecken — nach dem Sprüchwort: „Was ist schrecklicher als eine Flöte? — Zwei Flöten!“
Tribschen ist mit dem heutigen Tage zu Ende! Wie unter lauter Ruinen verlebte ich dort noch ein paar Tage, schwermuthsvolle Tage. Wir sprachen viel von Dir, auch von Deinem „tiefen, bedeutenden und ergreifenden Briefe“ wurde mir erzählt: sobald ein wenig Ruhe hergestellt sein wird, wird W. Dir schreiben. Inzwischen läßt er Dir durch mich sagen, wie sehr er Dir danke und bittet Dich seiner Einladung nach Baireuth zum 22 Mai ja zu folgen. Du bist verstanden worden und bist für immer in diesem Kreise der herzlichsten Theilnahme gewiß. Ach, welch ein ungeheures Leben regt sich jetzt von diesem Centrum aus! Und wie einzig glücklich sind wir, nicht außerhalb stehen zu müssen!
Die erste Anzeige meines Buches ist auch erschienen und sehr gut ausgefallen — aber wo! In der italiänischen Rivista Europea! Das ist hübsch und symbolisch!
Ich habe dagegen Anzeigen davon, daß ich den eigentlichen Fachgenossen jetzt bereits lächerlich vorkomme, lächerlich und unmöglich, weshalb mir zB. brieflich nicht mehr die übliche Höflichkeit angethan wird. Jetzt ist ja auch der Index des rhein. Mus. erschienen — denke Dir daß weder Ritschl noch Klette mir ein Wörtchen des Dankes für diese Gratis- und Hundearbeit gesagt haben! Schon mein Homeraufsatz (obschon nicht publiziert) hat die Äußerung hervorgerufen — „noch so ein Schritt und er ist ruinirt!“ Da geziemt es sich freilich, dem allmählich immer frecher werdenden Völkchen die Zähne zu zeigen und sie sänfliglich mit der Nase auf die Dinge zu stoßen, die sie mit ihren blöden Augen nicht sehen mögen. Doch werden meine 6 Vorträge jetzt noch nicht gedruckt, sondern erst im nächsten Winter, nach einer vollständigen Umarbeitung. — Ach, wie freue ich mich, mein Freund, daß wir nun Beide innerhalb der akademischen Verschanzung stehen, die Feuerbrände in den Händen — Dein letzter Brief erregte in mir die dankbarste Empfindung: wie unendlich einsam ich mich fühlen würde, wenn ich, bei allen Absichten und Hoffnungen, nicht an Dich denken dürfte, kann ich mir gar nicht ohne Schauder vorstellen. Deine Liebe gilt mir eine Million, sagt Falstaff. In Baireuth wollen wir alles mit einander besprechen, was ich heute nicht schreiben kann, ohne viel zu schreiben. Nur dies: es ist wahrscheinlich, daß ich für die nächsten Semester es noch innerhalb der Universität aushalte und mir die segensreiche Flucht in den Süden für den Zeitpunkt vorbehalte, wenn meine Stellung unerträglich und ekelhaft wird. Das ist sie bisjetzt noch nicht. Ja, seit Deiner heutigen Ernennung, bin ich auch glänzender und üppiger gestimmt als lange und fühle mich etwas von den Strahlen der kaiserlich-ministeriellen Gnadensonne vergoldet, die heute über Dir und Deinem Hause aufgegangen ist. Ora pro nobis! Dazu hat heute der Herausgeber der „philosophischen Monatshefte“ eine Biographie von mir eingefordert, wodurch ich mich gewissermaßen unter die „Philosophieprofessoren“ aufgenommen fühle. Drittens glaube ich von Straßburg her das gläubige und patriotische Jauchzen zu vernehmen und und den Festgesang pereat diabolus atque irrisores! Ein allgemeines akademisches Hochgefühl schwellt den Busen, mit dem ich, an ihn geworfen, nämlich an den Deinigen, zu bleiben gedenke,
hochgeachteter Herr Professor,
Euer wohlaffektionirter
irrisor academicus.