1872, Briefe 183–286
254. An Hugo von Senger in Genf
Basel am 23 Sept. 1872.
Mein verehrter Freund,
welche Überraschungen haben Sie Sich ausgedacht! Wahrhaft typische Überraschungen! Das Nie-Erwartete so plötzlich heranbringend, dass ich selbst noch zweifelte, als ich den ausgezeichneten und für mich höchst nützlichen Atlas, sammt Ihren liebevollen Begleit-Zeilen, in den Händen hielt! Um Ihnen aber zu zeigen, dass ich recht von Herzen den Sinn Ihres Geschenkes erfasse, erzähle ich Ihnen etwas.
Denken Sie, dass mir in den letzten Jahren die Hoffnung auf eine griechische Reise mehrmals verlockend nahe getreten ist. Noch in diesem Frühjahr wurde ich von einem Professor der Universität Freiburg im Breisgau recht dringend zu einer solchen Fahrt in das Land der Sehnsucht eingeladen. Der Einladende war der Sohn von Felix Mendelsohn-Bartholdi. Ich will Ihnen nun erklären, dass dasselbe Buch, das mir Ihre Neigung erworben hat, mich damals zwang, ein solches Anerbieten auszuschlagen. Denn seit jenem Buche ist es mir unmöglich geworden, das, was wir unser Hellas nennen, und Mendelsohnsche Antigone-Erinnerungen neben einander zu ertragen: während ich gerade darin den tiefen Sinn Ihres Geschenkes verstehe, dass jetzt jenes Hellas unser Hellas geworden ist, zu dem uns in unserer Musik ein wahrhaft göttlicher Führer gegeben wurde. Nehmen Sie also, mein verehrter Freund, Dank und Glückwunsch dafür, dass Sie einen so schönen Gedanken gedacht und ausgedrückt haben, der mir mehr als alles Bürge dafür ist, wie tief und wie von innen heraus Sie an meinen Bestrebungen Antheil nehmen.
Was Sie mir von der rüstig fortschreitenden Übersetzung sagen, hat für mich etwas Rührendes. Mir zu denken, dass ein mit so zweifelhaften Hoffnungen ausgestreutes Wort in der Ferne Wurzel fasst und durch die Liebe ausgezeichneter Menschen gehegt und zur Blüthe gebracht wird — das ist für mich so neu und so beglückend! Sagen Sie dies auch Frau Diodati und geben Sie mir Nachricht, ob ich durch irgend etwas der verehrten Frau meine Ergebenheit und Dienstbarkeit auszudrücken vermag.
Seien Sie überzeugt von der herzlichen Liebe
Ihres
Friedrich Nietzsche